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Natalie Merchant bei der Präsentation von "Leave Your Sleep" in "Good Morning America" ...

Foto: REUTERS/Lucas Jackson

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... da darf's schon mal ein Tänzchen sein.

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Natalie Merchant: "Leave Your Sleep" (Nonesuch/Warner 2010)

Coverfoto: Nonesuch/Warner

Es geht um Geschichten, immer um Geschichten. Mittlerweile ist Natalie Merchant, 30 Jahre Musikerin und doch erst 46 Jahre alt, selbst zu einer geworden. Und mehr denn je verbindet sich diese persönliche Geschichte mit denjenigen der Menschen, denen Natalie seit den Anfängen ihrer Karriere Stimme verlieh: Konkreten Einzelpersonen wie Jack Kerouac oder dem legendären Torero Manolete, der letztlich doch einem Stier unterlag - damals noch mit ihrer ursprünglichen Band, den Anfang der 80er gegründeten 10.000 Maniacs. Später dann, nach dem Verlassen der Band 1993, River Phoenix oder dem verschrobenen Künstler Henry Darger. Und neben den Berühmtheiten waren es immer wieder auch gerade die Namenlosen und Vergessenen, deren Schicksal stellvertretend für das vieler anderer stand: Seien es die Pionier-Frauen des "Wilden Westens", körperlich Behinderte, Opfer von Lynchjustiz oder verarmte Farmer aus der Zeit der Great Depression.

30-jähriger Weg

Geschichten erzählen als Teil der Geschichtsschreibung - durch Natalies Texte waren die 10.000 Maniacs von Anfang an eine Folk-Band, auch wenn sie mit einer enormen Bandbreite von Stilen experimentierten: Reggae, Calypso, Dub, New Wave und vieles mehr. Im Lauf der Jahre kristallisierte sich schließlich eine sehr erfolgreiche Poprock-Version von Folk heraus, noch einmal abgeschlankt in Natalies späterer Solo-Karriere. Die mit dem millionenfach verkauften Album "Tigerlily" (1995) begann und zwei weitere, weniger erfolgreiche, Alben später in einem nicht mehr verlängerten Plattenvertrag mit Elektra beinahe endete.

Wie als folgerichtiger Schlusspunkt einer Entwicklung erschien 2003 schließlich auf dem Eigenlabel Myth America Records "The House Carpenter's Daughter": Ein streng reduziertes und live eingespieltes Folk- und Blues-Album, für das Natalie und ihre Tour-Band Traditionals aufnahmen. Erstmals erzählte sie die Geschichten anderer also in deren eigenen Worten. "As thoroughly modern people, we wonder how the archaic tales of shipwrecks, fair or fallen ladies, buried treasure, the lonely sojourn of pilgrims, or the trials of the tenant farmers could speak to us about our world", schrieb sie damals noch.

Trailer zu "Leave Your Sleep" (Quelle: YouTube)

Sieben Jahre später und ebenso lange nach der Geburt ihrer Tochter setzt Natalie Merchant mit dem selbstfinanzierten Doppelalbum "Leave Your Sleep" exakt an dieser Stelle an - zumindest was fremde Texte anbelangt. Es sind Gedichte mehr oder weniger bekannter SchriftstellerInnen wie "Schatzinsel"-Autor Robert Louis Stevenson, Rachel Field, Mervyn Peake ("Gormenghast") oder E. E. Cummings. Die meisten davon wurden für Kinder geschrieben, was auch den roten Faden des Albums ergibt. Doch ist Natalie Merchant keine Mutter, die ihrem Kind eine kitschig-harmlose Welt vorgaukeln würde: Krieg und Abschied, Trauer und Tod haben darin ebenso ihren Platz wie sprachspielerische Nonsense-Gedichte und - das war schon zu Maniacs-Zeiten nicht anders - Belehrendes.

Musikalisch sieht es schon anders aus als 2003: Im Vergleich zum kargen "The House Carpenter's Daughter" ist "Leave Your Sleep" - ohne auch nur im entferntesten überladen zu wirken - geradezu verschwenderisch arrangiert. Unter der (wörtlich zu verstehen!) Hundertschaft an MusikerInnen finden sich unter anderem Wynton Marsalis, die Klezmatics oder das New York Philharmonic Orchestra. Aber nicht alle auf einen Haufen geschmissen, sondern so verteilt, dass die 26 Stücke eine stilistische Vielfalt aufspannen wie seit den Maniacs-Anfängen nicht mehr.

Reggae und Walzer

Manche Kombinationen lagen auf der Hand: Native American-Gesänge zu "Indian Names" etwa oder liebliche chinesische Instrumentierung zur Fabel "The King of China's Daughter", einem der besten Stücke. Andere sind bewusst gegen den Strich gebürstet und funktionieren dennoch: Mit "Topsy-Turvey World" wird ein viktorianisches Gedicht zum Reggae-Song, Mervyn Peakes Ulk-Text "It Makes a Change" wiederum kleidet sich in den Sound der Sixties, ziemlich genau auf halbem Weg zwischen Harry Nilsson und den Monkees. Das hätte vielleicht auch einen zeitgerechten Hintergrund für Jack Prelutskys "Bleezer's Ice-cream" abgegeben, immerhin lebte der spätere Kinderbuch-Autor zunächst in der Beatnik-Szene von Greenwich Village. Doch statt dessen kommt das Dada-Stück über einen Verkäufer unwahrscheinlichster Eissorten als jazziger Werbejingle, arrangiert von Wynton Marsalis, daher: Eine Art jugendfreie Version von "Chocolate Salty Balls" aus "South Park" ... so jugendfrei wie Geschmackskrönungen à la yam anchovi prune pastrami oder avocado brussels sprout halt sein können.

Auch das klingt im Verlauf des Albums immer wieder an und trägt zur unglaublichen Leichtigkeit von "Leave Your Sleep" bei: Todernst wollte Natalie Merchant nicht zu Werke gehen. Schwermütige Klezmer-Stücke (etwa "The Dancing Bear") oder der melancholische Walzer "Equestrienne" werden sofort mit etwas abgefedert, das mit fröhlichem Gefiedel glänzt. Bluegrass und Cajun muntern auf, wo altertümelnde Folk-Stücke im keltisch-angelsächsischen Stil zuvor elegische Stimmung aufkommen ließen. Das Gospel-Quintett, das Natalie zu "The Peppery Man" begleitet, wartet mit einem Bassisten an der Infraschallgrenze auf und lässt die Aufnahmesession in lockerem Geplauder ausklingen. Und wenn ein Stück schon mal einen für Kinder eher gruseligen Inhalt hat wie "The Sleepy Giant", dann quatscht plötzlich ein englischer Butler rein, um der menschenfressenden Riesin aus Charles Edward Carryls Märchen Aale und Toad in the hole zu servieren.

Unbedingt zu nennen sind noch "maggie and milly and molly and may", das soundmäßig an die Anfänge von Natalies Solo-Karriere erinnert, das akustisch gehaltene "If No One Ever Marries Me" und - vielleicht der eigentliche Höhepunkt des Albums - das traurige Gedicht "Spring and Fall: to a young child" von Gerard Manley Hopkins, vertont als wunderschöne Ballade mit der orchestralen Wucht der New Yorker PhilharmonikerInnen. Der "Barock-Folk" eines Sufjan Stevens liegt da ebenso nahe, wie es dessen Bestreben einer Americana-Geschichtsschreibung abseits der herkömmlichen tut. Auf seine Wendung ins Surreale verzichtet Natalie Merchant allerdings.

"Clear the dust from smiles in boxes, pass the patterned wall, recall their voices"

"Leave Your Sleep" ist mit einem Booklet ausgestattet, das seinem Namen gerecht wird. Enthalten sind die Fotografien sämtlicher eruierbarer AutorInnen, deren Texte Verwendung fanden (womit zugleich die historiografische Ästhetik fortgesetzt wird, die schon die Alben der 10.000 Maniacs prägte); ergänzt um ausführliche biografische Notizen und Anmerkungen Natalies zu ihren persönlichen Bezügen. - Etwas ungewollt hat das Album-Konzept damit den Effekt, dass die eigentlichen Songtexte nun doppelt ins Hintertreffen geraten: Nicht nur gegenüber der Musik - wie es Lyrics zwangsläufig immer widerfahren muss -, sondern auch gegenüber den Hintergrundgeschichten.

Die lesen sich dafür unerwartet spannend. Sei es das literarische Wunderkind aus dem Amerika der Jazz-Ära, sei es die populäre Verfasserin von Frauen-an-den-Herd-Texten des 19. Jahrhunderts, die ihrer Maxime mit ihrer publizistischen Karriere unwissentlich selbst widersprach, sei es die Britin, die einen Adelstitel mit der wunderschönen Begründung ablehnte: "I do not wish to become different from the milkman." Wie gesagt: es geht um Geschichten. Und in ihrer Summe um Geschichte. Beeindruckendes Album. (Josefson)