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Die Galleria Umberto in Neapel erinnert an die Einkaufsgalerien von Mailand. Hier gibt es einige der besten Geschäfte der Stadt.

Foto: Massimo Borchi/Corbis

Neapel, heißt es, sei eine der verschwenderischten Städte Italiens. Und das, obwohl die Stadt am Golf in der allgemeinen Vorstellung bitterarm ist. Wie das eine mit dem anderen zusammengeht, das macht zu keinem geringen Teil ihre Besonderheit aus.

Die Piazza Vittoria am späten Vormittag. Hier, unweit der Uferpromenade mit ihrem stetig vor sich hinflutenden Verkehr und den funktionierenden Ampeln, befindet sich eine klitzekleine, unauffällige Boutique. "Scusi signore", sagt der Wachmann, der davor steht, das Geschäft sei voll. Er bitte, etwas zu warten. Gerade einmal eine Handvoll Menschen stehen in dem in britischem Stil eingerichteten Geschäft, das es an dieser Stelle bereits seit beinahe 100 Jahren gibt. In den dunklen hölzernen Vitrinen: Krawatten über Krawatten. Jeden Tag um 6.30 Uhr zieht Maurizio Marinella die Rollläden des Geschäfts hoch. Das hat bereits sein Großvater so gehalten, der hochwertige Seidenstoffe aus England importierte und aus ihnen die feinsten Krawatten herstellte. Nadeln, Bügeleisen und Nähgarn, mehr brauchte Herr Marinella nicht, um eine Tradition zu begründen, die seitdem um die Welt ging. Mehr braucht auch sein Enkel nicht. Bis heute sind alle Marinella-Krawatten von Hand gemacht.

"Wir benutzen keine Hightech-Nähmaschinen", sagt der Chef des Hauses. Wer will, kann sich bei Marinella seine Krawatte auch nach Maß nähen lassen. Das passiere nicht einmal so selten.

Neapolitanische Schneiderkunst

Bis heute hält sich hartnäckig der Ruf von der einzigartigen neapolitanischen Schneiderkunst. Verkörpert wird sie von internationalen Anzugschneidern wie Kiton oder Rubinacci - oder eben dem Krawattenmacher Marinella. Vereinzelt sitzen in den mondänen Kaffees mit den venezianischen Lustern und den zuckersüßen Fogliatelle in den Vitrinen noch die Herren, die sich ihre Anzüge mit den typischen neapolitanischen weichen Schultern, der geschmeidigen Brustpartie und dem hohen Ärmelansatz in einem der vielen Ateliers der Stadt maßscheidern lassen.

Wirklich viele gibt es nicht mehr von ihnen in der Stadt, auch wenn der neapolitanische Handelskammerpräsident in einer seiner vielen Broschüren stolz darauf hinweist, dass es in Neapel nach Mailand und Rom die dritthöchste Konzentration an Privatunternehmen in Italien gibt.

Kriminalität, Arbeitslosigkeit und die ausufernde Bürokratie haben in den vergangenen Jahren ihre Zahl noch einmal sinken lassen. Neapels Ruf, eine genauso chaotische wie elegante Stadt zu sein, hat sich immer mehr in Richtung Neapel als einzige Problemzone verschoben. Stichworte: Camorra und Müllproblem. Das beglückt nur jene, die sich über das Ausbleiben der Touristen deswegen freuen, weil sie die Stadt dann nur mit Neapolitanern teilen müssen. Von ihnen gibt es sowieso schon eine ganze Menge.

In den Gassen rund um das Geschäft von Signore Marinella ist das Wissen um die großbürgerliche und aristokratische Tradition von Neapel noch intakt. Begrenzt auf der einen Seite durch den Golf, auf der anderen durch die schroff ansteigenden Tuffsteinhügel, auf denen sich das "Napoli nobile" des Vomero und des Posilippo ausbreitet, die Stadtteile der großen alten Familien mit den Großmüttern und Tanten in den verfallenden barocken Palästen, liegt der Stadtteil Chiaia. Früher residierten hier an der langgestreckten Uferpromenade die Könige von Neapel, heute sind es die Könige der internationalen Luxusindustrie: Gucci, Hermès. Louis Vuitton - und dazwischen die kleinen, manchmal allzu gut versteckten Geschäfte, in denen Qualität meist Maßarbeit bedeutet - sei es bei Krawatten oder Blusen.

Es scheint, als ob die Neapolitaner mit ihrer großen Liebe für das Handwerk und die alten Traditionen das Fehlen des oftmals Notwendigsten wettmachen wollten. "Die Kultur des Prekären", heißt es in einem schönen Neapel-Text des Kulturanthropologen Marino Niola, "verwandelt den Überfluss in Notwendigkeit, weil sie im Besitz gewisser Dinge ein Symbol für die Erlösung sieht, für die Befreiung, einen Schuldschein für eine unerreichbare soziale Mobilität." Wenn sonst nichts mehr geht, ein exklusiver Regenschirm aus der Werkstätte von Mario Talarico (einer der weltbesten Regenschirmmacher!) geht sicher. Oder zumindest eines der köstlichen "dolci", die in Neapel an allen Ecken feilgeboten werden.

Vesuv aus Schokolade

In der Via Chiaia 72, der von eleganten Geschäften gesäumten Hauptstraße des Viertels, ist es zum Beispiel die legendäre Konditorei Gay Odin, die hier seit beinahe 120 Jahren residiert (es gibt noch acht weitere Filialen in der Stadt) und in der es die berühmte Schokolade "Foresta" zu kaufen gibt, ein Traum aus hauchdünnen, wie zu einem Ast eines Baumes zusammengerollten Schokoladenteilen. Wer unbedingt will, kann natürlich auch noch einen Vesuv aus Schokolade kaufen.

An ihm kommt man in dieser Stadt sowieso nicht vorbei. Am besten ist er natürlich hoch oben von den Hügeln der Stadt zu betrachten, von denen man gleichermaßen auf das Gewimmel der Gassen wie auf Sorrento und Capri blickt. Hier residieren jene, die unten in Chiaia Maß oder einen Kaffee nehmen.

Wer dagegen nur für ein paar Tage in der Stadt weilt, der steigt im Parker's ab, dem einzigen Grand Hotel der Stadt, das in einer Kurve des Corso Vittorio Emanuele thront und wahrscheinlich einen der besten Blicke über die Stadt bietet - vorausgesetzt, die Terrasse auf dem Dach ist nicht wieder einmal geschlossen.

Das Parker's verkörpert wie kaum ein anderes Haus die glorreiche Vergangenheit Neapels. Seit 1870 das Haus des Prinzen Salvatore Grifeo in ein Hotel umgewandelt wurde, stiegen hier all jene betuchten Zeitgenossen ab, die Neapel nicht nur als schnelle Zwischenstation vor der Überfahrt nach Capri sahen.

Der Niedergang Neapels von der glanzvollen Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien zu der Stadt von heute, die über sich mit Stolz, aber meist in der Vergangenheitsform spricht, vollzog sich nicht von einem Tag auf den anderen. Die Vergangenheit ist in diesem vibrierenden Moloch am Golf noch allgegenwärtig. Sie zeigt sich nicht immer von ihrer schönsten, dafür aber oft von einer durchaus malerischen Seite. Ja, manches hat sogar nur hier überleben können. (Stephan Hilpold/DER STANDARD/Printausgabe/31.12.2010/1./2.1.2011)