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"Studieren wird unsinnlich, keimfrei. Es gibt keine Gefahr mehr, aber auch kein Vergnügen. Keine pädagogische Lust, und keine Lust an der Pädagogik."

Foto: EPA/Kazuhiro Nogi

"Sekuhara" gehört zu den Wörtern der japanischen Sprache, die aus dem amerikanischen Englisch übernommen und dabei in Aussprache und Schreibweise stark verändert wurden. "Sekuhara" heißt auf Englisch: "sexual harassment", auf Deutsch: sexuelle Belästigung. Höre ich das japanische Wort, und das ist in vergangener Zeit öfter geschehen, klingt es verschämt, eher eine Ablenkung von der bezeichneten Tatsache als eine Hinlenkung zu ihr. Im Mund der Leute wirkt es wie etwas Zerbrechliches, auf dem man nicht kauen darf, oder wie ein fettes Fleischstück, das man nicht hinunterschlucken und nicht ausspucken kann und von einem Winkel in den anderen schiebt.

An dem Universitätsinstitut, an dem ich Deutsch unterrichte, gab es unlängst zwei Fälle von "Sekuhara". Beide Professoren hatten junge Studentinnen belästigt, beide wurden entlassen. Die beiden Männer sind ganz verschiedene Typen. Ein selbstbewusster Schönling der eine, der von seiner Frau und seinen erwachsenen Kindern getrennt lebte; ein etwas behäbiger, leicht verschrobener Junggeselle der andere.

Der Schönling wurde von den meisten Studentinnen bewundert. Sie saßen in seinen Vorlesungen und staunten ihn an oder machten ihm schöne Augen. Eines Tages berichtete er mir von einem Problem, das es mit dem anderen Professor, dem Komplexler, gebe: Er mache immer wieder Studentinnen unschickliche Anträge (so etwa drückte er sich aus). Eine Studentin sagte mir später, er habe sie mehrmals stundenlang, bis spätabends, in seinem Zimmer festgehalten, ohne eigentlich etwas Besonderes zu tun; Angst habe ihr die Situation trotzdem gemacht. Der Mann war von der Fakultätsdirektion schon öfter verwarnt worden, es hatte Beschwerden gegeben, und jetzt geriet das Fass zum Überlaufen.

Er war selbst einsichtig genug und nahm den imaginären Hut (für reale Accessoires hatte er keinen Sinn). "Ich habe eine Dummheit begangen", sagte er mir in der Kneipe, bevor das Ganze öffentlich wurde; oder halb öffentlich, denn wirklich offen spricht man über diese Dinge nicht.

Der Schönling wurde wenige Monate später gefeuert. Das kam für alle überraschend. Der Aussage der Studentin vor der Polizei zufolge hatte der Professor sie in sein Haus gelockt, ihr Wein zu trinken gegeben, der ein Betäubungsmittel enthielt, und sich an ihr vergangen. Der Professor sagte mir unter vier Augen, er habe eine Dummheit begangen, aber Zwang habe er keinen angewendet, die Studentin sei aus freien Stücken zu ihm gekommen. Es kam zu einer Art Gerichtsverhandlung an der Fakultät, man glaubte in den meisten Punkten der Studentin.

Beide Männer habe ich nie als Ungetüme erlebt. Dem Komplexler hätte man helfen müssen, indem man ihn zu einem guten Therapeuten schickte. Und beim Schönling, was hätte man da tun können, tun sollen? Keine Ahnung. Ich halte es für möglich, dass er mir gegenüber, unter vier Augen, die Wahrheit gesagt hat. Warum hätte er nicht mit einer Studentin ins Bett gehen sollen? Von mir aus, bitte. Der Dekan hielt damals, nachdem der Professor plötzlich weg war, eine Ansprache vor den Studentinnen (fast alle weiblich) und den verbliebenen Lehrern, unglaublich trocken, das Wort "Sekuhara" in der Mundhöhle hin und her schiebend.

Um nicht konkret werden zu müssen, ließ er sich darüber aus, dass die belästigte oder missbrauchte Studentin minderjährig sei, bekanntlich dürften Minderjährige keinen Alkohol trinken, der Professor habe sie jedoch dazu verleitet. In Japan wird man erst mit zwanzig großjährig, die Studentin hatte dieses Alter noch nicht erreicht. Die meisten jungen Studenten leben allein, fern von ihren Eltern, jobben, aber in drei Bereichen - Sex, Alkohol, Politik - haben sie offiziell keine Verantwortung.

Natürlich haben die meisten Studentinnen Erfahrung mit Sex, auch vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr. Einige legen ein verführerisches Verhalten an den Tag, auch Lehrern gegenüber. Eine von ihnen sagte mir einmal auf meine Frage, warum sie an diesem Institut studiere: "Wegen des Professors" - sie meinte den Schönling. Ihre Miniröcke waren so kurz, dass man ihr Höschen sah, wenn sie im Unterricht aufstand. Von einer anderen erfuhr ich, dass sie ältere Männer viel anziehender findet als gleichaltrige Studenten. Warum auch nicht? Ich sehe darin kein Problem (sie übrigens auch nicht). Ich sehe auch kein Problem darin, dass Studenten und Professoren sexuelle Beziehungen unterhalten - auch wenn ich es seltsam fände, würde das zur Regel. Ein Problem sehe ich allein im Missbrauch von Macht, in der Anwendung von körperlichem oder seelischem Zwang. Das kann ich aber Leuten nicht vermitteln, die das Spiel der Macht, wenn auch ohne Vermischung mit Sexuellem, spielen.

Natürlich versucht das System, versuchen die mehr oder minder mächtigen Personen etwas zu unternehmen, vor allem aus Imagegründen. Es geht ihnen um das Ansehen der Bildungseinrichtung. Deshalb werden die Lehrenden, ist ein Fall von "Sekuhara" aufgetreten, eine Zeitlang verpflichtet, an Veranstaltungen teilzunehmen, in denen sie über "Sekuhara" aufgeklärt werden. Ich habe ein einziges Mal an so einer Veranstaltung mit einem Fachmann teilgenommen; nicht öfter, weil sie sinnlos sind. Man bekommt dort ein paar theoretische Erörterungen und praktische Ratschläge zu hören. Sich nicht mit einer Studentin allein in einem Zimmer aufhalten - so als wären die Professoren die Opfer und müssten sich gegen Angriffe schützen. Oder müssen sie sich gegen ihre eigenen Triebe schützen? Sich kasteien?

"Sekuhara" wird bei diesen Präventions- und Aufklärungsfeldzügen meist in einem Atemzug mit "power harassment" ("Pawahara") genannt. Das allein zeigt, dass niemand an eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem denkt. Arbeitsdruck hat nicht das Geringste mit den Fällen von "Sekuhara" zu tun, auch wenn "Sekuhara" Machtverhältnisse voraussetzt. Meiner Beobachtung nach entsteht Arbeitsdruck in der Regel nicht durch sadistische Vorgesetzte, sondern durch das System selbst. Sexuelle Belästigung hingegen ist durch persönliche Lebensgeschichten bedingt, die Probleme sind unterschiedlich und können nur individuell gelöst werden. Die beiden beschriebenen Beispiele zeigen das klar.

Allerdings kann man Bedingungen schaffen, unter denen sich die Gefahr von "Sekuhara" verringert. An meiner Fakultät sind die meisten Lehrenden Männer, etwa 80 Prozent, wenn nicht mehr. Die meisten Studierenden sind Frauen, junge Studentinnen, 80 Prozent oder mehr. Das Geschlechtsverhältnis ist, gelinde gesagt, unausgeglichen. Eine Möglichkeit, "Sekuhara" zu bekämpfen, bestünde darin, ein ausgeglichenes Verhältnis zu schaffen. Ob das aber die Männer, die Machtpositionen einnehmen, auch wollen? Ziel der Veränderung wäre es nicht, die Zahl der Männer möglichst stark zu reduzieren. Nein, es geht um Ausgeglichenheit, um gute - auch sexuelle, warum nicht? - Beziehungen unter den Lehrenden, zwischen Lehrenden und Studierenden, um die Möglichkeit für die Studierenden, nicht nur zwischen Themen und Unterrichtsstilen zu wählen, sondern auch zwischen Mann und Frau.

Mein Institut war längere Zeit ohne Leiter, bis sich die Kommissionen endlich für zwei neue Kräfte entschieden hatten. Die neue Leiterin ist eine Frau; möglich, dass bei einigen Entscheidungsträgern die Einsicht durchgeschlagen hat, es könnte günstig sein, die Zahl der Professorinnen zu erhöhen. Die Frau, die wir bekommen haben, ist allerdings keine Frau, sie ist ein geschlechtsloses Wesen, über fünfzig, ohne Kinder und Ehemann, dem männlichen Machtsystem gedankenlos unterworfen. Nein, man hat sich nicht für eine Frau entschieden, sondern für die Geschlechtslosigkeit, für Sterilität. So schüttet man das Kind mit dem Bade aus, man säubert den Campus von jedem erotischen Gedanken, Studieren wird keimfrei, unsinnlich. Es gibt keine Gefahr mehr, aber auch kein Vergnügen. Keine pädagogische Lust, keine Lust an der Pädagogik. Die neue Leiterin kümmert sich merklich um Ordnung, Sauberkeit, Ernsthaftigkeit; bloß kein Alkohol, keine Zigaretten; kein persönliches Gespräch. Jede Lebensregung wird dem Studium unterworfen. Trotzdem werden keine großen Fortschritte erzielt, im Gegenteil. Ohne Lust kann man nicht lernen. Man kann sich auf Tests vorbereiten, aber es bleibt nichts hängen. Kein sinnlicher Eindruck, keine Erinnerung.

Die japanische Methode, mit "Sekuhara" umgehen, ist keine Lösung, es ist eine Abtötung, man schüttet das Kind mit dem Bad aus. Was man damit erreicht, ist das verallgemeinerte Scheinleben von angepassten Zombies, vor denen niemand etwas zu befürchten hat und die niemanden zu fürchten brauchen. "Ansen", vollkommene Sicherheit. Eine der Folgen: Es werden keine Kinder mehr gezeugt. Japan leidet an demografischer Überalterung. Ganz so schlimm ist es in Wirklichkeit nicht; die Lust lässt sich nicht endgültig ausrotten. Das ginge nur durch medizinische Sterilisierung, wie man sie an Haustieren vornimmt. Damit wäre nicht nur der Lust, sondern der Gesellschaft, die man zu schützen meint, ein Ende bereitet. (Leopold Federmair, Album, DER STANDARD, 3./4.11.2012)