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"Der Begriff Burnout wird heute geradezu inflationär gebraucht."

Alle Psycho oder was? Diesem Hype steht Wolfgang Schneider, Leiter der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin an der Universitätsmedizin Rostock, skeptisch gegenüber. Doch wie viel Erschöpfung ist normal? Denn, immer häufiger scheinen Stress, Angst, Beziehungsprobleme, Arbeitsüberlastung oder Arbeitslosigkeit sowie andere berufliche oder soziale Schwierigkeiten zu psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen zu führen.

Diese aktuelle Debatte greifen wird heute in einem Symposium in Berlin aufgegriffen. Das Thema: Medikalisierung sozialer Probleme. "Mehr und mehr werden soziale Probleme in scheinbar medizinische umgewandelt", sagt Schneider. Ohne jedoch die wachsenden psychosozialen Anforderungen in der Arbeitswelt wie im Privaten abstreiten zu wollen, hält der Rostocker Mediziner eine Reflexion darüber für angesagt. Die Frage lautet: Inwiefern werden soziale Probleme über komplexe gesellschaftliche Mechanismen zu Unrecht oder zu schnell in die Sprache der Medizin übersetzt. 

Entlastende soziale Funktion

Ein häufig anzutreffendes psychosoziales Problem scheint beispielsweise das Burnout-Syndrom zu sein. "Eigentlich mögen wir diesen Begriff nicht besonders", sagt Schneider. Geradezu inflationär werde dieser Begriff heute gebraucht und dabei oft auch auf relativ "normale" Erschöpfungszustände, Gefühle der Überforderung oder auch niedergedrückten Stimmungen des Menschen angewendet, die nicht unbedingt als Ausdruck einer psychischen Erkrankung zu verstehen sind. Allerdings ist zu beachten, dass derartige Probleme oder Symptome auch den Beginn einer relevanten psychischen Erkrankung - vor allem einer Depression - darstellen können.

Der öffentlich prominent verwendete Burnout-Begriff ist schillernd und dient vielfach als Erklärung für subjektiv als bedrängend erlebte Befindlichkeitsstörungen, als deren Ursache in erster Linie berufliche Überlastungen oder ein Zuviel an Engagement angesehen werden. Damit weist dieses Konzept eine den Einzelnen entlastende soziale Funktion auf. Nicht der Betroffene ist schuld an seinen psychischen Problemen sondern die überfordernde Arbeitswelt oder das hohe berufliche Engagement. "Dies erklärt wohl auch die Attraktivität und öffentliche Akzeptanz, die dieses subjektive Leiden vielfach aufweist" so Schneider.

Schnelle Diagnosen

Epidemiologische Studien haben ergeben, dass mittlerweile pro Jahr jeder vierte Mann und jede dritte Frau an einer psychischen oder psychosomatischen Krankheit leiden, unabhängig davon, ob diese behandelt wird oder nicht. "Die Krankschreibungen wegen psychischer Probleme haben in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen", unterstreicht der Mediziner.

Auch bei Frühpensionierungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit stellen diese Erkrankungen die größte Gruppe dar. Dies erwecke den Eindruck, dass diese Erkrankungen bedeutsam zugenommen hätten. Letztlich sei jedoch eher davon auszugehen, dass Patienten gegenüber den Ärzten eine größere Bereitschaft aufweisen über etwaige psychische und soziale Probleme zu sprechen und dass Ärzte schneller diese Diagnosen vergeben.

Die breite und offensive Debatte in der Politik, den Medien und dem medizinischem Versorgungssystem über die hohen gesellschaftlichen und arbeitsbezogenen Belastungen, aber auch die psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit oder prekäre Arbeitsverhältnissen haben ihre Wirkungen bei den einzelnen Menschen. Von Interesse ist die Frage, ob psychische Erkrankungen wirklich zugenommen haben, wie vielfach behauptet.

Großzügig krankschreiben

Patienten klagen gegenüber ihren Ärzten häufiger über Zustände wie Burnout, Erschöpfung oder Depressivität aber auch über starke Belastungen im Alltag, weiß der Experte. Er kritisiert, "dass die behandelnden Ärzte oftmals eine zu große Bereitschaft zeigen, den Betroffenen entsprechende Diagnosen zu geben und großzügig krank schreiben, ohne dass dies jeweils medizinisch angemessen oder hilfreich ist". Diese Vorgehensweisen seien häufig nicht den wirklichen Problemen angemessen. Auch dadurch würden chronische Krankheitsverläufe angestoßen, die oft in Frühpensionierung münden würden. Dabei würden die sozialen Probleme häufig nicht genügend berücksichtigt.

Auf dem Symposium sollen diese gesellschaftlich brisanten Prozesse sowie Medikalisierungstendenzen auf den Prüfstand gestellt werden. "Am Ende wollen wir ein realistisches Verhältnis zu diesem Phänomen vermitteln, ohne es zu überhöhen oder zu bagatellisieren", sagt der Rostocker Mediziner. Dabei sei zu berücksichtigen, dass gerade im Bereich psychischer Themen, die Übergänge zwischen gesund und krank fließend sind und stark von gesellschaftlichen Normen und Werten abhängen. (red, derStandard.at, 11.4.2013)