Pierre Boulez ist am Mittwoch gestorben.

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Baden-Baden – Es sucht der junge Künstler nach seinem Platz in der Gesellschaft, nach Identität, indem er an Denkmälern der Tradition rüttelt. Und es gab Zeiten, da erklärte Pierre Boulez einen Arnold Schönberg und dessen Ästhetik für tot. Auch erklärte er später Opernhäuser zu reaktionären Räumen, die es in die Luft zu sprengen gelte. Es gab also Zeiten, da war Boulez der zornige Intellektuelle der Avantgarde, ein Radikaler der Neuen Musik, den man in der Rückschau (neben Kollegen wie Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen) zur "Darmstädter Schule" zu zählen begann.

Diese frühe Phase allein hätte Boulez einen Platz in der Musikgeschichte gesichert – wohl auch unter dem Begriff des Serialismus, dessen starres Regelwerk Boulez jedoch schließlich im Sinne der Freiheit des Gestaltens aufzulösen begann: Das Schlagwort meint verkürzt die Übertragung der Zwölftontechnik auf die Parameter Dynamik, Rhythmus und Klang. Überblickt man allerdings das Lebenswerk dieses französischen Universalgelehrten, scheint sein Charisma auch darin zu bestehen, die Versöhnung zwischen Historie, Gegenwart und Zukunft zu repräsentieren.

Selbst als etablierte Autorität des Klassikbetriebes, die ihr Schaffen in zahllosen Aufnahmen dokumentieren konnte, blieb Boulez (1925 in Montbrison geboren) ein zwar freundlicher, aber unbestechlicher Zeitgenosse. Er zog sich nicht auf eine dirigentische Neubefragung etablierter Werke (etwa von Mahler, Bartók und der Zweiten Wiener Schule) zurück.

Moderne und Betrieb

Vielmehr vermittelte Boulez weiter Zeitgenössisches, förderte junge Kollegen und kämpfte quasi für eine Institutionalisierung von Innovation. Als Stardirigent war er, der sich in den letzten Jahren aus gesundheitlichen Gründen zurückzog, eine Art Trojanisches Pferd, das Tradition pflog, um die Moderne elegant in den Betrieb zu schleusen. Es ging Boulez darum, mit Modernem den altehrwürdigen Betrieb zu unterwandern. Zu den nachhaltigen Erfolgen gehört so auch die Gründung der "kompositorischen Forschungsstätte" Ircam (1976) und des Ensemble Intercontemporain.

Letztlich hatte Boulez zu dirigieren begonnen, um seine und die Werke der Moderne nicht nur adäquat zu hören, sondern sie überhaupt zu hören. Damals, 1954, bei der Konzertreihe Domaine Musical, hätte Boulez sich wohl nicht träumen lassen, dass er 1966 von Bayreuth eine Einladung erhalten (er dirigierte Parsifal) und 1976 in Bayreuth beim Jahrhundert-Ring neben Regisseur Patrice Chéreau stehen würde.

Rückkehr an den Grünen Hügel

Und womöglich hätte er später – nach diesen auch aufreibenden Erfahrungen – kaum vermutet, dass er auf den traditionell sehr unbequemen Grünen Hügel zurückkehren würde. Boulez aber ließ sich 2004 auf Regisseur Christoph Schlingensief und dessen Ideen zu "Parsifal" ein. Und es waren wohl Boulez' gelassene Neugier und dessen in seiner Klarheit singulärer Dirigierminimalismus, die das Unternehmen vor dem Auseinanderbrechen im Skandal bewahrten und ihm einen fulminanten Erfolg bescherten. Wer dabei war, wird nie vergessen, wie sich nach wilder Buhorgie für Schlingensief alles in applaudierende Ehrfurcht verwandelte, als Boulez, diese Integrationsfigur, vor den Vorhang trat. Ebenso wird auch die subtile Intensität der Musik in Erinnerung bleiben.

Bei Wagners "Parsifal" verzauberte dabei, was bei Boulez immer faszinierte: Ob er nun Mahler dirigierte oder Webern – abseits von billigen Effekten erreicht er Intensität über die Mittel Intimität, Transparenz und Klangsinnlichkeit. Zauber war zugegen, jedoch immer ein unaufdringlicher. Hört man Boulez' Stücke, bemerkt man neben struktureller Eleganz und Strenge auch eine Klangpoesie, die an Impressionismen anzuschließen scheint. Da war also eine Verwandtschaft zwischen Dirigier- und Kompositionsästhetik, wobei die Werke oft "Objekte" ewiger Neudeutung wurden. "Pli selon pli", in den 1950ern begonnen, fand erst 1989 seine endgültige Gestalt; Répons wuchs seit der Uraufführung von 15 auf 45 Minuten. Und Notations (für Klavier komponiert) wurden auch für Orchester weitergedacht.

Was man so schreibt

Boulez hat nie bereut, nicht ausschließlich Komponist geblieben zu sein. "Ich habe zwar viel für zeitgenössische Musik gemacht, was Organisation und das Gründen von Institutionen anbelangt, aber muss ich das bedauern? Ich glaube nicht sehr", sagte er einst im STANDARD-Interview.

Und: "Der Komponist Boulez hat sehr viel davon profitiert. Ich habe viel über Wahrnehmung nachdenken können, über die Beziehung zwischen dem, was man schreibt, und dem, was man hört. Wenn ich nicht das Ircam gegründet hätte, wären viele Fragen bezüglich Technologie, Mikrointervallen und Rhythmik ohne Antwort geblieben."

Boulez zeigte aber auch, wie Musik der Gegenwart und jene der Vergangenheit in einen Dialog treten können. Und auch, dass ein Hineinwachsen in die Rolle einer allseits respektierten Institution nicht zur Erstarrung führen muss. Boulez blieb immer offen und bereit, Regeln infrage zu stellen. Nur eines wollte ihm nicht gelingen – eine Oper. In diesem Punkt war der Tod dagegen. Alle drei Librettisten – Jean Genet, Heiner Müller und Bernard-Marie Koltès – starben zu früh.

Nun ist ihnen Pierre Boulez gefolgt. Er starb am Dienstag 90-jährig in Baden-Baden. (Ljubiša Tošić, 6.1.2016)