Der Nationale Bildungsbericht gibt einmal mehr die Möglichkeit, geübte Praxis im österreichischen Bildungssystem zu reflektieren.

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Die Wissensgesellschaft ist weitgehend erforscht, häufig und gerne zitiert. Neue Formen der digitalen Kommunikation stellen mehr Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung, als die Gesellschaft und das Bildungssystem zunächst bewältigen können. Die Explosion dieser kommunikativen Möglichkeiten lässt Informationen und Wissen als die Paradigmen des 21. Jahrhunderts erscheinen.

Damit steht jedenfalls fest: Die Steuerung gesellschaftlicher Teilsysteme wie eines erfolgreichen Bildungssystems wird in einer Wissensgesellschaft immer schwieriger. Vor dem Hintergrund globaler und internationaler Kontexte ist lokales Handeln für nationalstaatlich organisierte Bildungssysteme herausfordernder und anspruchsvoller denn je. Die Lösungen von heute könnten ja schon die Probleme von morgen sein.

Neue Ordnungsbildung

Der Nationale Bildungsbericht gibt einmal mehr die Möglichkeit, geübte Praxis im österreichischen Bildungssystem zu reflektieren – jenseits jener Beteiligten, die aus den schulischen Hinterhöfen parteipolitisch-ideologisch konnotierte Bildungsberatung anbieten. Jenseits jener Praxis, die jahrelang eines durchaus kultivierten, aber eben pragmatischen Handelns entsprach. Und jenseits jener Denktraditionen, die davon ausgehen, dass die Probleme im Bildungssystem in den Mängeln von Einzelpersonen begründet seien.

Der Nationale Bildungsbericht ist Protokoll und Aufruf einer neuen Ordnungsbildung. Kurz: eines Bildungssystems, das abseits des Klingelzeichens den Menschen in den Mittelpunkt stellt, aber die Eigenschaften des Gesamtsystems durch eine sich abzeichnende Wissensgesellschaft erklärt. Eine Wissensgesellschaft, die sich nicht auf das bloße Zusammenarbeiten von Menschen beschränkt. Sondern ihre Intelligenz und ihre Handlungsfähigkeit aus dem Zusammenspiel von Personen und Organisationen als eine der zentralen Fähigkeiten eines sozialen Systems Bildung definiert. Und Bildung als ein zentrales kollektives Gut der Gesellschaft versteht. Der Bildungsbericht formuliert einmal mehr auch die Bedeutung struktureller und organisationaler Gegebenheiten als Beitrag zur Umsetzung von Bildungsreformen. Zeugnis darüber geben die vier großen Kernaussagen.

Individuelle Förderung. Schüler sollen verstärkt individuell gefördert werden. Die Basis dafür bilden neue kompetenzorientierte Leistungsbeurteilungen und eine erhöhte Betreuungszeit beim Lernen – Stichwort verschränkte Ganztagsschulen. Der Wissensgesellschaft entsprechend werden etwa neue individualisierte interaktive Unterrichtsmaterialen gefordert.

Inklusives Schulsystem. Verstärkte Übernahme von Verantwortung zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Diversität im schulischen Alltag soll durch gezielte Ressourcenzuteilungen zur herausfordernden Normalität in einer offenen, sich ständig neu vernetzenden Bildungsgesellschaft werden.

Professionalisierung. Lehrpersonen und Schulleitungen stehen vor neuen qualitativen Herausforderungen in ihrer Profession. Managementfähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit neuen Technologien werden gefordert.

Governance. Die strukturellen Voraussetzungen für Schulgovernance sollen einer fundamentalen Revision unterzogen werden. Es braucht mehr Autonomie für einzelne Schulstandorte und den Abbau von föderalen Mechanismen, die zu überschneidenden Zuständigkeiten führen, hin zu einer klaren, transparenten und einheitlich zuständigen Bundesverwaltung.

Neue Regeln

Was sind nun die neuen Regeln? Weniger "Oben oder Unten", sondern vielmehr "Hier und Dort". Das Bildungssystem verlangt verstärkt Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen und Beziehungen. Weniger hierarchisch – mehr heterarchisch! Der Aufbau von interdisziplinär zusammengesetzten Netzwerken, die kreativ und inhaltlich konsequent an der Umsetzung der Vorschläge arbeiten. Der Prozess des Reformierens darf nicht der Beliebigkeit überlassen werden.

Einen "New Deal" verspricht die Regierung. Dieser Deal kann erfolgreich sein. Die Grundvoraussetzungen: erstens das Verständnis für das System Bildung als komplexes soziales System. Die Politik muss klar und nachvollziehbar definieren, welche Wirkungen mit einem funktionierenden Bildungssystem für eine nächste Wissensgesellschaft erzielt werden.

Intelligente Strukturen?

Zweitens braucht es die Neubewertung eines intelligenten Bildungssystems. Fragen nach der Substanz und der Qualität des Bildungssystems dürfen nicht mit der Qualität einzelner Personengruppen im System verwechselt werden. Das Bildungssystem umfasst Schüler, Lehrer, Bildungsfachleute und Eltern.

Die zweite Seite der Medaille ist aber die Systemeigenschaft an sich. Wie intelligent sind die Strukturen unseres Bildungssystems? Die Zuständigkeiten der Länder, des Bundes? Oder wie intelligent sind Entscheidungsprozesse geregelt? Unter welchen Voraussetzungen wird qualitativ hochwertige Bildung möglich? Und welche "communities of practice" sind notwendig, um die aktive Reaktionsfähigkeit des Bildungssystems zu erhöhen?

Permanenter "Prozess des Organisierens"

Drittens das Bildungssystem als "loosely coupled system". Organisationsforscher Karl Weick beschreibt die lose Kopplung von Systemen als eine Voraussetzung für Stabilität. Wenn wir Bildung auch als organisatorische Fähigkeit verstehen, dann liegt die Aufgabe darin, lose gekoppelte Systeme in Richtung Effizienz und Qualität zu optimieren. Wer ist an der Kopplung der losen Systeme beteiligt? Das sind Ministerien, Hochschulen, Schulen, Familien, Kulturräume, Verwaltungen et cetera.

Es mag als Binsenweisheit des Veränderungsmanagements gelten, dass es keine Zauberkunststücke geben wird. Aber: Die Wissensgesellschaft wird zumindest mit einem permanenten "Prozess des Organisierens" das soziale System Bildung für die Zukunft sichern. Ohne Wunder, aber mit viel Energie und Anstrengung. (Josef Oberneder, 14.6.2016)