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Trauernde versammelten sich am Freitag unter anderem auf dem Londoner Parliament Square, um Abschied von der ermordeten Jo Cox zu nehmen

Foto: Reuters / Stefan Wermuth

Mit demonstrativer Geschlossenheit hat das politische London am Freitag auf die Ermordung der Labour-Abgeordneten Joanne "Jo" Cox reagiert. Premierminister David Cameron, Oppositionsführer Jeremy Corbyn und Parlamentspräsident John Bercow reisten nach Birstall bei Leeds (Grafschaft Yorkshire) und legten am Tatort Blumen nieder, wo die 41-Jährige am Donnerstag nach einer Bürgersprechstunde in ihrem Wahlkreis durch mehrere Schüsse und Messerstiche getötet worden war. Der Abstimmungskampf um Großbritanniens EU-Mitgliedschaft blieb den ganzen Tag unterbrochen, die Kampagnen beider Lager sollten auch am heutigen Samstag ruhen. "Sie starb, während sie ihren Job machte", sagte der Regierungschef. "Wir sollten unsere Demokratie in Ehren halten."

Der Mord hat Bestürzung ausgelöst. Kondolenzbekundungen kamen von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel ebenso wie von der demokratischen US-Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton. Labour-Chef Jeremy Corbyn sprach von einem "sinnlosen Akt des Hasses".

Radikales Gedankengut

Die Polizei hatte noch am Tatort einen 52-jährigen Arbeitslosen festgenommen. US-Meldungen zufolge hatte der Mann vor siebzehn Jahren Kontakt mit US-Neonazis, der sogenannten National Alliance. Von ihnen erwarb er eine Anleitung zum Eigenbau von Schusswaffen. In den 1980er Jahren hatte er Kontakt zu südafrikanischen Rassisten. Gleichzeitig kämpfte er seit Jahrzehnten mit psychischen Problemen.

Ohrenzeugen zufolge soll der Täter während seines Angriffs "Britain First" gerufen haben, was einen rechtsextremen Hintergrund der Bluttat bestätigen würde. Die winzige Partei gleichen Namens wies jede Verantwortung von sich. Nachbarn des Verdächtigen, der seit 32 Jahren in der gleichen Sozialwohnung gelebt hatte, konnten sich an keine politischen Äußerungen des passionierten Gärtners erinnern. Sein Halbbruder aus der Ehe der Mutter mit einem Schwarzen sagte, er traue "Tommy keine Gewalt" zu.

Ansehen über Parteigrenzen hinweg

Cox war erst im vergangenen Jahr für ihren Heimatbezirk ins Unterhaus gewählt worden, hatte aber zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Arbeit für führende Politiker sowie für Entwicklungshilfe-Organisationen wie Oxfam. Die verheiratete Mutter von zwei Kindern, drei und fünf Jahre alt, genoss Ansehen über Parteigrenzen hinweg. Als Parlamentarierin engagierte sich die Absolventin der Elite-Uni Cambridge für eine Lösung des Bürgerkriegs in Syrien.

Die Nachricht von dem Mord ließ bereits am Donnerstag beide Lager des Brexit-Wahlkampfs ihre Kampagnen unterbrechen.

Echte Tragödie

Der konservative Finanzminister George Osborne verwarf am Abend seine vorbereitete Rede und nutzte eine Ansprache in der City of London für eine Hommage an die Kollegin. Am Freitag dominierten erstmals seit Wochen nicht Horrormeldungen über diese oder jene Folge des Brexit die Schlagzeilen der Zeitungen, sondern eine echte Tragödie.

Reihenweise kämpften hartgesottene Politik-Profis mit den Tränen. Cox sei "wie eine Nichte" für ihn gewesen, erzählte der Ex-Labour-Chef und EU-Kommissionsvize Neil Kinnock. Die junge Frau hatte in den 1990er Jahren für Kinnocks Frau, die spätere Europa-Staatssekretärin Glenys Kinnock, im EU-Parlament gearbeitet.

Keine Gegenkandidaten bei Nachwahl

Wie in Birstall versammelten sich Freitag in vielen Städten Tausende in stillem Gedenken. Andere legen Blumen nieder: am Tatort, auf dem Parliament Square vor dem Unterhaus, an dem umgebauten Lastkahn auf der Themse, nahe der Tower Bridge, wo Cox mit ihrer Familie wohnte.

Die parteiübergreifende Popularität der Getöteten machte am Freitag eine Geste deutlich: Konservative und Liberaldemokraten teilten mit, sie würden bei der nun fälligen Nachwahl für Cox' Sitz im Unterhaus keine Kandidaten aufstellen. Dies hat auf der Insel keine Tradition. 1990 war der Konservative Ian Gow durch irische Terroristen ermordet worden. Bei der Nachwahl verlor die Partei der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher das Mandat. (Sebastian Borger aus London, 17.6.2016)