"Jewish Sightrunning" nennt der Direktor des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt einen geführten Traillauf zu den Eckpunkten der jüdischen Geschichte des Burgenlandes. Eine historisch-läuferische Spurensuche – mit Video

Am schnellsten war Wolfgang Weisgram. Das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich ist Weisgram der Burgenland-Korrespondent des Standard. Und – auch, aber nicht nur deshalb – einer der versiertesten Kenner des jüngsten österreichischen Bundeslandes. Politisch, kulturell und historisch. Minuten nach Weisgram meldete sich dann auch meine Mutter. So wie Weisgram mit einem Ordnungsruf, der nach Bruno Kreisky klang: "Lernen Sie Geschichte, Herr Redakteur", hieß es sinngemäß bei beiden.

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Ich hatte vergangene Woche über das Belaufen von Eisenstadt geschrieben – und im Zuge dessen gesagt, dass ich hier weder Laufgruppen noch besondere Laufevents kenne. Zwischen den Zeilen stand, dass man fürs Eisenstadt-Erlaufen auch Sprinter sein könne: Einmal ums Schloss, die Hauptstraße runter, am Haydnhaus vorbei – und durch den Park zurück. Das ist Eisenstadt: Habemus Siterunning. Oder "Sightrunning" – ganz nach Gusto.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich war das plakativ verknappt. Aber ich wurde von etlichen Eisenstädterinnen und Eisenstädtern – zurecht – mehrfach belehrt. Die Stadt habe auch läuferisch mehr zu bieten. Sei mehr. Größer, weiter, vielfältiger.

Und – und hier kommen Weisgram und meine Mutter ins Spiel – es gäbe etwas Besonderes: Historisches Siterunning nämlich. Eine geführte Lauftour durch die jüdische Geschichte der Esterhazy-Stadt.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich möge, hatte Weisgram empfohlen, einfach auf die Webseite des Österreichischen Jüdischen Museums schauen: Ich möge, hatte Mutter geschrieben, mich an ihre Erzählung erinnern. An die von ihrem Versuch, mit einer Freundin an diesem Lauf teilzunehmen. Und an die Familienanekdote, derzufolge besagte Freundin "laufen" bundesdeutsch las – und mit Mantel und Halbschuhen aufkreuzte, woraufhin Johannes Reiss, der laufende Museumsdirektor, den "Sightrun" eben zum "Sightwalk" erweiterte. Und ihn seither auch so auf der Homepage seines Museums anbietet.

(Und wenn das so nicht ganz stimmt, ist es trotzdem eine schöne Geschichte.)

Foto: Thomas Rottenberg

Drittens, aber das schrieb mir niemand, hätte ich es selbst wissen müssen. Schließlich hatte Johannes Reiss mir irgendwann, als ich im Museum gedreht hatte, von den "Sightruns" erzählt. Die bietet der leidenschaftliche Läufer (Wochenpensum: 160 Kilometer) seit 2012 an. Weil klassische Stadtführungen die Stadt nicht verlassen. Weil manche der wichtigsten Orte jüdischer (und auch und burgenländischer) Geschichte nicht zentral lägen und man auch mit dem Auto nicht ordentlich hinkäme.

Weil Laufen (oder, seit dem Besuch der Freundin meiner Mutter) Spazierengehen der Auseinandersetzung mit Zeit und Geschichte alles andere als abträglich sei. Und so weiter.

Reiss hatte mir schon damals eine private Lauf-Führung angeboten. Ich habe garantiert zugesagt, mich sicher und ehrlich gefreut – und alles vergessen, sobald wir am Weg zum nächsten Interview waren: Das klingt überheblicher als es ist – ist aber natürlich kein Ruhmesblatt für mein Langzeitgedächtnis oder meine Verlässlichkeit. Egal.

Foto: Thomas Rottenberg

Derzeit bin ich – aus privaten Gründen, in denen ein Sexshop für Frauen in der Fanny-Elßler-Gasse, Waltraud Haas, Barbara Karlich und Ramesh "der Inder" Nair zentrale Nebenrollen spielen – Wochenend-Teilzeit-Eisenstädter. Also nutzte ich die Chance – und rief im Jüdischen Museum an: Ob es diese jüdischen Geschichtsläufe noch gäbe? Ob Reiss Zeit und Lust habe, mich auf eine Runde mit zu nehmen?

Und so stand ich vergangene Woche nach langer Zeit zum ersten Mal wieder an einem Freitagnachmittag in einer Synagoge. In der – gefühlt – denkbar groteskesten Adjustierung: Im Laufdress mit Kippa. Ob sowas nicht unpassend sei, fragte ich den Museumsdirektor. Der verneinte: Respekt vor religiösen Gefühlen sei selten eine Frage der Kleidung – aber immer eine der Einstellung.

Außerdem hat Gott – welcher auch immer – derzeit vermutlich andere Sorgen als das Outfit von zwei verschwitzen Männern an einem schwülen, gewittrigen Nachmittag in einer Synagoge in Eisenstadt: Weder berufen wir uns auf ihn – noch wollen wir in seinem Namen bekehren, belehren, retten oder morden. Wir wollen laufen – sonst nichts.

Foto: Thomas Rottenberg

Reiss' Runde ist fein. 10 Kilometer. Mit 300, teils knackigen, Höhenmetern. Aber – viel spannender – voll mit Geschichte. Ob die nun 100 Prozent jüdisch, burgenländisch, kakanisch oder österreichisch ist, spielt eigentlich keine Rolle. Es geht in jedem Fall um etwas, was uns ausmacht. Alle. Um Kleinigkeiten. Um Zusammenhänge. Egal, auf welcher Seite die eigenen Großeltern standen. Egal, wo man sich selbst heute verortet: Geschichte – die große wie die kleine – ist der Nährboden, aus dem wir wachsen. Ob wir sie kennen (wollen) oder nicht. Es geht um das, was wir aus und mit diesem Boden machen. Darum, zu lernen. Im Guten wie im Schlechten.

Foto: Thomas Rottenberg

Im Laufen wie im Gehen. Oder im Sitzen. Mit einem Unterschied: Wenn ich laufe, bin ich da. Drifte nicht ab. Bin achtsam, aufmerksam und fokussiert. Weil der Weg das Ziel ist – und ich den Weg vorher als ebendieses definiert habe: Egal ob Tempo, Siegertreppchen, Kilometerfresser oder Technik – oder etwas ganz Anderes. Etwa die Lektion in Zeit- und Regionalgeschichte. So wie die, die Johannes Reiss für sein "Jewish Siterunning" zusammengestellt hat.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich könnte diesen Lauf jetzt nacherzählen. Teilstück für Teilstück. Jahreszahlen, Routen, Ereignissen. Anekdoten – und Grausamkeiten. Und käme dann zu jenem Fazit, zu dem jüdische Geschichte in Europa immer führt: Der Auslöschung – und dem Kampf gegen das Vergessen.

Nur: Das tue ich. Nicht, weil ich es nicht kann – sondern weil da einer ist, der es besser kann. Kompetenter. Authentischer. Echter: Johannes Reiss.

Darum überlasse ich ihm hie die Bühne: Ich beschränke mich im Video aufs Stichwortegeben – und betone, dass das nur die zweitbeste Antwort auf die Frage danach ist, wie dieser Lauf sich anfühlt: Fahren Sie einfach nach Eisenstadt – und finden Sie es raus. Es zahlt sich aus. Läuferisch vermutlich – aber für Kopf und Herz unter Garantie. (Thomas Rottenberg, 4.8.2016)

thomas rottenberg