"Ich sehe, dass Männer und Frauen in der islamisch geprägten Gesellschaft gleichermaßen an den rigiden Moralvorgaben und an der Verlogenheit ihrer Gesellschaft leiden", sagt die Romanistin und Menschenrechtsaktivistin Saïda Keller-Messahli.

Foto: Alessandro Della Bella (Keystone)

STANDARD: Sie sind in einer Großfamilie in Tunesien aufgewachsen, kamen mit sieben Jahren in die Schweiz zu einer Pflegefamilie. 2004 haben Sie das Forum für einen fortschrittlichen Islam gegründet, das diesen "aus der festgefahrenen kulturfeindlichen Sackgasse" befreien will. Haben fundamentalistische Strömungen im Islam das Leben muslimischer MigrantInnen in Europa verändert?

Saïda Keller-Messahli: Wenn man die Zahl der Jihadisten betrachtet, ja: In der Schweiz haben wir circa 80 junge Muslime, die radikalisiert in den Jihad gezogen sind. In Deutschland ist es das Zehnfache. Was das an Leid für die Eltern bedeutet, können wir nur teilweise erahnen. Das sind alarmierende Zahlen, die zeigen, wie radikale Ansichten innerhalb des Islam sich in den letzten Jahren in Europa verbreiten konnten. Gleichzeitig haben wir islamische Organisationen, die im Hintergrund sehr aktiv daran arbeiten, dass die Integration von MuslimInnen verhindert wird. Für sie ist die soziale Integration eine "kulturelle Invasion", die es zu bekämpfen gilt.

STANDARD: Wie konnten islamische Moscheeverbände so mächtig werden?

Keller-Messahli: Diesen Organisationen haben wir seit den 1970er-Jahren alle Tore geöffnet. Die neun Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben sich damals nach dem "Ölschock" erpressen lassen. Das kann man in der Resolution von Straßburg aus dem Jahr 1975 nachlesen. Den Saudis wurde damals auch erlaubt, sogenannte islamische Kulturzentren in den Hauptstädten zu bauen. So auch in Wien, Brüssel, Rom, Madrid, Genf und Basel. Heute bestehen solche saudischen Zentren weltweit und benützen die Moscheen-Netzwerke der jeweiligen Länder, um ihren rückständigen Islam zu propagieren, ChristInnen zu konvertieren, Einfluss auf die Moscheebesucher auszuüben. Letztes Jahr haben sie in Genf sogar eine Europäische Organisation für islamische Zentren gebildet, die möglichst viele Moscheen und "Kulturzentren", Imame und Prediger in Europa finanzieren will.

STANDARD: Das Forum bezieht Stellung zu Zwangsehe, Kopftuch, Homosexualität, Selbstbestimmung der Frau. Wie verbreitet sind in diesen Fragen fortschrittliche islamische Haltungen?

Keller-Messahli: Ich glaube, dass sie bei laizistischen MuslimInnen, jenen, die nicht in Moscheen organisiert sind – in der Schweiz sind das fast 90 Prozent der MuslimInnen –, sehr verbreitet sind. Es ist nur schade, dass sich diese Mehrheit selten zu Wort meldet. Die öffentliche Debatte ist von der Minderheit geprägt: Vertreter von Moscheen und Moscheenverbänden, die organisatorisch und ideologisch mit der Islamischen Weltliga verbunden sind.

STANDARD: "Statt einzuengen, soll der Islam Ressourcen des Zusammenlebens mobilisieren", heißt es in Ihrem Positionspapier. Welche Ressourcen sind das?

Keller-Messahli: Die mentale Freiheit und Offenheit aufbringen, sich auf andere Menschen einzulassen und nicht im eigenen Ghetto zu bleiben, in einen realen Austausch mit der Gesellschaft treten. Dogmen kritisch zu hinterfragen und sich mehr Freiheit zu gewähren sind intellektuelle Leistungen. Kurz gesagt: die Religion nicht als Korsett von Verboten und Geboten zu verstehen oder als reine Ideologie, die man überall vor sich hinschiebt, sondern als spirituelle Kraft, die nichts mit sozialer Markierung und Absonderung zu tun hat.

STANDARD: Nach der Silvesternacht in Köln wurde sexuelle Gewalt als ein von islamisch sozialisierten Männern nach Europa importiertes Problem gehandelt. Wurden in der darauffolgenden Debatte Frauenrechte und Feminismus instrumentalisiert?

Keller-Messahli: Wir sollten das Problem beim Namen nennen: Dadurch, dass heute in islamischen Ländern Sexualität völlig tabuisiert ist, wird das Verhältnis zum anderen Geschlecht zu etwas gemacht, das es zu unterdrücken gilt. Hier entstehen falsche Bilder im Kopf und sogar Ängste. Hinzu kommt das Verhältnis zum Fremden, wie in Köln zur europäischen Frau – also doppelt anders. In Köln wurde sichtbar, was in den Köpfen dieser Männer stattfindet: ein Bild von der europäischen Frau, das nichts mit der Realität zu tun hat. Die europäische Frau wird als Objekt wahrgenommen, über das man verfügen kann. Ich glaube nicht, dass hier Frauenrechte, die auch Menschenrechte sind, instrumentalisiert wurden.

STANDARD: Liegt eine Schwierigkeit einer differenzierten Islamkritik in der Mehrfachdiskriminierung, der sich muslimische Frauen gegenübersehen – von muslimischen Fundamentalisten einerseits und einer islamfeindlichen Gesellschaft andererseits?

Keller-Messahli: Wäre die Gesellschaft "islamfeindlich", würde sie nicht Millionen MuslimInnen aufnehmen und für ihre soziale Integration Mittel und Personal zur Verfügung stellen. Wir dürfen das Vokabular der Islamisten nicht übernehmen, sondern müssen verstehen, dass sie genau diese "Islamfeindlichkeit" haben wollen. Mit ihr lässt sich gut wirtschaften – den MuslimInnen beibringen, dass sie Opfer sind und dass sie sich der Integration verweigern sollen. Ein Beispiel ist die Europäische Organisation für islamische Zentren in Genf. In ihr sind fast alle Leiter saudischer "Kulturzentren" in Europa – auch von Wien – vertreten. Sie hätten sich organisiert, sagt ihr Präsident, weil die "Islamophobie" zugenommen habe. Sie möchten, dass sich Muslime als Opfer fühlen, denn mit Opfern lässt sich gut Politik betreiben. Eine differenzierte Islamkritik ist durchaus möglich – allerdings braucht es schon ein bisschen Mut und Aufrichtigkeit dafür.

STANDARD: Derzeit wird in vielen europäischen Ländern über ein Burka- oder Niqab-Verbot geredet. Sie befürworten ein Verschleierungsverbot und kritisieren auch das Kopftuchtragen. Warum?

Keller-Messahli: Weil der Koran nichts dergleichen für die muslimische Frau vorschreibt. Es ist ein grober Fehler, diese Markierung des weiblichen Körpers im öffentlichen Raum als Religionsfreiheit zu entschuldigen und zu dulden. Es wäre heilsamer, die Konfrontation nicht zu scheuen und die Agenda der Islamisten zurückzuweisen. Hier vermisse ich die Stellungnahme der Linken, die sich ja sonst immer für die Frauenrechte einsetzt. Warum gelten diese Rechte bei muslimischen Frauen nicht?

STANDARD: In der westlichen Welt werden Frauen mit Kopftuch entweder bemitleidet oder mit Argwohn betrachtet. Drängt die Diskussion Frauen weiter in eine Ecke?

Keller-Messahli: Nein, es sind oft junge Frauen, die sich selber in die Ecke drängen, wenn sie sich weigern, das Kopftuch abzulegen, selbst wenn eine Arbeitsstelle davon abhängt. Die Militanz mit der sich diese Frauen für ihr Kopftuch einsetzen, hat so gar nichts mit Spiritualität zu tun. Sie beharren auf dem Bild der Heiligen mit Kopftuch, um der Gesellschaft ihre "Reinheit" und "Keuschheit" zu beweisen – das Kopftuch als Anklage der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat, als Verweigerung der sozialen Integration.

STANDARD: Die Debatte über ein Verschleierungsverbot dient auch als Stimmungsmache für rechte Bewegungen. Wie kann man hier gegensteuern?

Keller-Messahli: Indem man sich in die Debatte einbringt und öffentlich Position gegen den hochorganisierten politischen Islam einnimmt. Tatsache ist, dass in den meisten europäischen Ländern und anderswo mächtige Organisationen wie die Islamische Weltliga und ihre 21 Unterorganisationen daran arbeiten, ihre Ansichten in den Moscheen durchzusetzen. Sie tun das ganz legal mithilfe der saudischen "Kulturzentren". Die islamistische Propaganda findet ungehindert in allen Bereichen statt, von den salafistischen Koran-Verteilaktionen bis hin zur Literatur, die sogenannte Seelsorger in Strafvollzugsanstalten mitbringen. Auch die Linke muss diese Tatsachen und die übergeordneten Verbindungen zu ihrem Thema machen und muslimischen Frauen Freiheit und Loyalität zur Gesellschaft zumuten.

STANDARD: Würden Sie sich als muslimische Feministin bezeichnen?

Keller-Messahli: Nein. Ich sehe, dass Männer und Frauen in der islamisch geprägten Gesellschaft gleichermaßen an den rigiden Moralvorgaben und an der Verlogenheit ihrer Gesellschaft leiden. Es ist eine Gesellschaft, die totalitäre Züge trägt: Die Bedürfnisse und Träume des Einzelnen müssen stets zugunsten der Familie, des Clans, der Gesellschaft unterdrückt werden. Natürlich sind die Frauen besonders davon betroffen, jedoch kann auch ein Mann in einem Umfeld, das von Gewalt und Repression strukturiert ist, nicht glücklich sein. (Christine Tragler, 20.10.2016)