Plácido Domingo (li.) wird am Theater an der Wien ab Sonntag in der zweiten Regieversion von Verdis "Macbeth" singen. Die erste Version der Inszenierung von Roland Geyer sieht man am Freitag.

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Roland Geyer, der das Theater an der Wien einst erfolgreich in "das neue Opernhaus" umgewandelt hat, neigt nach wie vor zu dieser Kennzeichnung: Es ginge nicht nur um Jahreszahlen, "sondern um eine neue Form des Musiktheaters. Und dafür steht das Haus sicher noch die nächsten Jahre. Ich kann momentan bis 2020 reden. Dann wird man sehen." Ob dies damit zu tun hat, dass er an der Ausschreibung für den Posten des Wiener Staatsoperndirektors teilnimmt? Dazu wollte sich Geyer interessanterweise nicht äußern.

STANDARD: Das Wort "neu" ist Ihnen also weiter wichtig?

Geyer: Es muss sich ständig verändern. Man muss immer neue Musiktheaterformen erdenken und evozieren. Vor zehn Jahren war Videoprojektion ein Trend. Für mein Gefühl muss man inzwischen schon wieder aufpassen, wenn man andere Medien ins Theater einbringt, indem man mit Film oder Laser arbeitet. Was gelingen muss, ist dem Publikum – egal wie "modern" oder "historisch" das Bühnengeschehen aussieht – das Gefühl zu geben, Menschen zuzusehen und nicht Regieanweisungen. Die Gefahr – vor allem bei Repertoirehäusern – ist, dass Produktionen nur noch professionell abgespielt werden und es nicht mehr um das Erlebnis geht.

STANDARD: Geht es dabei, im Gegensatz zum Brechen der Illusion wie bei Brecht, um das Schaffen eines Zaubers, um das Hineinkippen in die Theaterwelt??

Geyer: Ich glaube, beides. Wie bei einem guten Film geht es nicht nur darum, dass man in das Geschehen hineingezogen wird. Theater muss mehr bieten. Ich glaube, es muss auch den Zuschauern bewusst werden, dass sie mehr mitnehmen können als nur das Erlebnis eine Story. Das klingt vielleicht hochtrabend. Aber es geht mir nicht darum, das Publikum zu belehren, sondern es einzubeziehen. Und einen Blick von außen einzubeziehen. So wie wir im Leben auch etwas machen und uns dabei selbst betrachten können. Das halte ich für wesentlich im Theater: dass es den Menschen etwas gibt. Emotionen erfahren lässt, die sie in der Wirtschaft oder Technik vielleicht nicht bekommen können. Deshalb ist wahre Kunst und Kultur mehr als nettes Entertainment.

STANDARD: Das war Ihr Anspruch von Anfang an?

Geyer: Am Anfang ging es vor allem darum, wie man sich gegenüber der Staatsoper als übermächtigem Konkurrenten – auch durch ihr historisches Gewicht – positionieren kann. Wir hatten den Anspruch, dass das Theater an der Wien nicht einfach ein weiterer Spielort ist, sondern dass es eine internationale Bedeutung bekommt. Da geht es nicht nur um schöne Erfolge und darum, Preise zu gewinnen, sondern darum, dass unsere Projekte insgesamt eine Aura ausstrahlen und unser Publikum Vertrauen zu uns hat – auch wenn wir immer wieder bei den Besetzungen großartige Künstler, die in Wien noch keinen Namen haben, präsentieren, oder wenn wir manchmal Stücke spielen, die in normalen Opernführern gar nicht zu finden sind. Für den Falstaff von Salieri, den wir im Oktober unter der Leitung von René Jacobs gezeigt haben, muss man zum Beispiel schon ein besonderes Opernbuch haben.

STANDARD: Wie wollten Sie das Theater an der Wien gegenüber der Staatsoper positionieren?

Geyer: Es war mir nie wichtig, besser zu sein als die Staatsoper – anders aber schon, sehr sogar. Das Theater an der Wien sollte von vornherein etwas Einzigartiges sein. Ich bin der Stadt sehr dankbar, dass man mich nie mit der Quote unter Druck gesetzt hat. Andererseits stellt sich bei unserer Auslastung von oft über 95 Prozent die Frage nicht. Was uns offenbar gelungen ist, ist, dass die Menschen gerne kommen, weil sie damit rechnen können, hier ein lebendiges Theater zu erleben.

STANDARD: Wie kann man Musiktheater lebendig machen?

Geyer: Ich sehe Oper als dreiteiliges Phänomen. Erstens gibt es den Stoff und das Libretto, zweitens die musikalische Formung und Deutung des Werks durch den Komponisten. Wenn man nur diese zwei Teile hätte, wäre Oper ein für alle Mal in einer Partitur verewigt. Als dritter Teil ist aber die Aufführung, die Umsetzung, die Interpretation ein Schaffensprozess, natürlich beim Leading Team, aber auch in jedem Einzelnen. Und darauf kommt es an.

STANDARD: Sie inszenieren nun Verdis "Macbeth" in zwei Versionen – und mit zwei zentralen Liebespaaren. Wie wirkt sich das auf die Lesart des Stücks aus?

Geyer: Es wurde im Probenprozess sehr deutlich, dass sie sich Roberto Frontali ganz anders mit meinen Anregungen bezüglich der Figur des Macbeth auseinandergesetzt hat als Plácido Domingo: Domingo hat erzählt, dass er es als Tenor über Jahrzehnte gewohnt war, den Guten zu spielen. Und jetzt spielt er mit den Bariton-Rollen seit ein paar Jahren die Bösewichte. Um sie auf der Bühne gut darstellen zu können, braucht er dabei für sich selbst immer wieder die Argumentation, dass auch diese Figuren in Wirklichkeit gut sein können. Für ihn ist der Macbeth in erster Linie von der Lady Macbeth manipuliert. Das waren für mich interessante Diskussionen. Es war für mich eine tolle Herausforderung, ihn auch zum emotionalen Mörder zu machen.

STANDARD:Wie sehen Sie selbst das?

Geyer: Für mich sind Lady Macbeth und ihr Mann wie kommunizierende Gefäße. Einmal ist die eine Hälfte der Antrieb und die andere schwächer – und umgekehrt. Frontali, der die Rolle aus anderen Inszenierungen kennt, hat bei mir plötzlich auch den Lover zu spielen. Also den, der seine Frau wirklich liebt, was sich auch sexuell darstellt, aber vor allem eine echte, ehrliche Beziehung ist.

STANDARD: Geht es also für Sie in Verdis "Macbeth" um die Idee des absolut Bösen, das ja von der übernatürlichen Sphäre der Hexen eingeführt wird, und ihren Widerstreit mit der Liebe?

Geyer: Das absolute Böse wäre mir zu eindimensional. Wir haben das Stück irgendwo nach dem Jahr 1945 angesiedelt. Grundsätzlich geht es aber um die Zeit nach einem Krieg und um die Neuordnung der Situation. Das erleben wir ja immer wieder, soeben enorm im Nahen Osten. Aus der Bipolarität zwischen dem Bösen und der Liebe schöpfe ich aber schon sehr viel. Ich hoffe schon, dass dieses Wechselspiel auch unserem Publikum bewusst wird.

STANDARD: Verdi hielt fest, die Lady Macbeth solle nicht schön singen, sondern "rau" und "teuflisch". Welche Konsequenzen ergeben sich für Sie daraus?

Geyer: Als Intendant habe ich natürlich nicht versucht, zwei Sopranistinnen zu finden, die ganz furchtbar und hässlich singen. Nichtsdestotrotz ist es für mich als Regisseur wichtig, an der einen oder anderen Stelle eher hässliche Klänge herauszuholen, sodass manchmal mehr gesprochen oder geschrien als gesungen wird. Ich habe das Werk auch deshalb für eine eigene Inszenierung gewählt, weil hier nach dem Verdi’schen Ansatz ganz exemplarisch Theater gespielt werden soll.

STANDARD: Gibt es eigentlich Situationen, in denen sich Intendant und Regisseur nicht einig sind?

Geyer: In der Schachnovelle von Stefan Zweig gibt es eine Stelle, wo der Protagonist gegen sich selbst spielt. Das gehört zu meinen Lieblingswerken – schon aufgrund der Situation "Ich gegen ich". Meine Aufgabe als Intendant ist immer, ein Gesprächspartner für das Leading-Team zu sein. Dieses Diskutieren, dieses Finden ist für mich etwas Wichtiges. Aber in diesem Fall war es für den Regisseur schon eine Herausforderung, dass ihm der Intendant zwei verschiedene Fassungen eines Stücks aufs Aug gedrückt hat.

STANDARD: Gab es umgekehrt auch schon den Fall, dass der Intendant den Impuls gespürt hat, den Regisseur einzubremsen?

Geyer: Gott sei Dank musste ich das bis jetzt nie machen. Ich musste mich noch nie künstlerisch anbiedern, überhaupt noch nie künstlerisch gegensteuern. Das lag aber auch daran, dass ich nie gezwungen war, die Auslastung in die Höhe zu treiben, nur um den kaufmännischen Direktor oder die Politik zufriedenzustellen.

STANDARD: Stichwort Politik: Die Vereinigten Bühnen Wien haben einen neuen Geschäftsführer, Franz Patay, dessen Vorgänger Thomas Drozda inzwischen Kulturminister ist. Wie stehen Sie zu den beiden?

Geyer: Franz Patay kenne ich seit über zehn Jahren, als er Geschäftsführer der Gesellschaft des Mozartjahres war und mit mir sehr gut zusammengearbeitet hat. Schon die ersten Gespräche haben mir gezeigt, dass er das absolut richtige Verständnis für den Job hat. Mit Thomas Drozda haben mich acht sehr erfolgreiche Jahre verbunden, in denen er zusammen mit der Wiener Kulturpolitik die ideale Basis für meine künstlerische Arbeit geschaffen hat. Ich freue mich für ihn sehr, weil ich glaube, dass das Kulturministerium seiner Leidenschaft für Kunst und Kulturpolitik sehr entgegenkommt.

STANDARD: Hätten Sie selbst Lust, irgendwann in die Politik zu gehen?

Geyer: Nein.

STANDARD: Und wenn Sie eines Tages gefragt werden?

Geyer: Das kann ich wirklich ausschließen. Ich bin allerdings schon ein politisch denkender Mensch und meine, jeder muss die Verantwortung wahrnehmen, die in seinem Bereich liegt. Die Situation in Amerika ist besorgniserregend, aber darüber dürfen wir nicht vergessen, was gerade in Syrien und in der Türkei passiert. Wir sollten hier den richtigen Maßstab bewahren. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir in Österreich und überhaupt in Europa zu wenig über den eigenen Tellerrand hinausblicken. (Daniel Ender, 11.11.2016)