Maßregeln mit erhobenem Zeigefinger gehört zum Kommunikationsstil der rot-schwarzen Koalition.

apa/hochmuth

Bundeskanzler Christian Kern und sein Vize von der ÖVP, Reinhold Mitterlehner, sind sich oft nicht einig.

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Wien – Der Vorwurf beruht auf Gegenseitigkeit. Manche Koalitionäre sprechen ihn hinter vorgehaltener Hand aus, andere öffentlich und kaum verklausuliert. "Ein höheres Ziel" unterstellte etwa Innenminister Wolfgang Sobotka der SPÖ im Endlosstreit um die Mindestsicherung. Welches? Auf Nachfragen druckste der ÖVP-Politiker herum, doch des Rätsels Lösung ist ohnehin bekannt: Gemeint sind Neuwahlen.

Ein halbes Jahr, nachdem Christian Kern als neuer Kanzler einen "New Deal" ausgerufen hatte, sind SPÖ und ÖVP in altbekannte Debatten verstrickt. Die Gräben erscheinen mitunter sogar tiefer als unter der Regentschaft Werner Faymanns. Damals gab es mit Sozialminister Rudolf Hundstorfer und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner zumindest eine Achse, die das Werkl am Laufen hielt. Heute kracht es gerade auf dem Feld der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Nicht immer desaströs

Um fair zu bleiben: Nicht immer war das Resultat so desaströs wie bei der Mindestsicherung, wo der Reformversuch in der Abschaffung einheitlicher Standards münden dürfte. Fünf Arbeitsgruppen brachten manchen Kompromiss zustande (siehe unten), doch einen echten "New Deal" erkennt niemand. Als symptomatisch gelten die Wickel ums Budget: Die Resonanz wäre gar nicht so negativ gewesen, hätten sich Kern und Mitterlehner das eigene Werk im Parlament nicht verbal um die Ohren gehauen.

Haben es die Koalitionsparteien also satt und suchen, sobald die Präsidentenwahl geschlagen ist, eine Chance zum Absprung? In der SPÖ gibt es derartige Überlegungen definitiv. Kalkül: Derzeit schlägt Kern noch viel Sympathie entgegen, doch mit jedem Monat in der rot-schwarzen Zwangsjacke leidet das Strahlemannimage. Außerdem gilt die Parteibasis als hochmotiviert, im Wahlkampf zu "rennen". Denn erfolgreicher als in der Regierungspolitik war Kern beim Versuch, den Genossen mit "linken" Signalen neuen Mut einzuimpfen: Endlich, so die weitverbreitete Stimmung, habe die SPÖ wieder einen Chef, für den man sich nicht entschuldigen müsse.

Eine Partei, zwei Strategien

Was aus roter Sicht gegen eine Wahl vor dem regulären Termin 2018 spricht: Solange das Ausländerthema alles überlagert, hat die FPÖ im Rennen um Platz eins Rückenwind. Das gilt auch für die Mindestsicherungsdebatte: Im Gegensatz zur Parteispitze gibt es im roten Unterbau durchaus Verständnis für die Idee, Flüchtlingen die Sozialleistungen zu kürzen.

Wohin will nun die ÖVP? Zunächst: Die ÖVP gibt es nicht. Der Parteichef und sein Regierungskoordinator Harald Mahrer gehören zu denen, die es für sinnvoller halten würden, das Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen. Mitterlehner wird auch nicht müde zu betonen, das Erscheinungsbild der Regierung müsse sich ändern. Erst am Freitag versicherte er in der Tiroler Tageszeitung: "Der Preis für vorgezogene Neuwahlen ist zu hoch."

Die niederösterreichische Denke

Solche Sätze nehmen ihm Parteikenner durchaus ab. Nur: Andere in der ÖVP fahren eine diametral entgegengesetzte Linie. "Die niederösterreichische Denke", wie es ein ÖVPler formuliert, geht so: Den Partner bei jeder Gelegenheit angreifen, die Schlagzeilen diktieren – egal ob positiv oder negativ. Erster Proponent ist Klubchef Reinhold Lopatka, dem nachgesagt wird, sich dem künftigen Parteichef Sebastian Kurz anzudienen. Einkalkuliert wird, dass nach einer Wahl Kurz möglicherweise nur den Vizekanzler unter Heinz-Christian Strache geben könnte. Angesichts der Unerfahrenheit der Blauen könnten sich die Machtverhältnisse schnell wieder ändern, so die Überlegung.

So mancher in der ÖVP wirft Mitterlehner auch vor, sich nichts mehr zu trauen – Stichwort abgesagte Gewerbereform. Der schwarze Tenor geht also in Richtung: Das wird nichts mehr. Oder wie ein ÖVPler sagt: "Die Todesdiagnose steht fest. Die Frage ist nur mehr, wie lange man den Patienten noch am Leben halten kann." (Gerald John, Günther Oswald, 12.11.2016)