Bei Industrie 4.0 müsse man realistisch bleiben, meint der Industriesoziologe Hirsch-Kreinsen.

Foto: VIG/Tanzer

STANDARD: Es gibt derzeit sehr pessimistische Studien, die breiten Jobabbau wegen der stattfindenden Digitalisierung und lernender, intelligenter Maschinen erwarten. Sehen Sie die Arbeitsmarktentwicklung, die da im Rahmen von Industrie 4.0 stattfindet, auch so?

Hirsch-Kreinsen: Da kann ich nur mit einem klaren Nein antworten. Die prominenteste Studie dieser Art ist von zwei britischen Wissenschaftern, Carl Frey und Michael Osborne. Die haben den US-Arbeitsmarkt und das technologische Potenzial von neuen Technologien – Robotersysteme, vernetzte, intelligente Algorithmen etc. – untersucht. Dabei sind sie zu dem Schluss gekommen, dass bis zu 47 Prozent aller Jobs gefährdet sind. Diese Studie geht seitdem rund um den Globus, und viele Untersuchungen folgen ihr und kommen zu ähnlichen oder weiterreichenden Ergebnissen.

STANDARD: Und trotzdem sehen Sie für Jobs nicht ganz schwarz?

Hirsch-Kreinsen: Ja, denn es gibt mehrere Argumente, die gegen diese schrecklichen Prognosen sprechen. Das schlichteste Argument lautet, dass man US-Strukturen nicht einfach weltweit umlegen kann. Außerdem haben die Kollegen nur die technologischen Potenziale abgeschätzt. Das heißt, man hat nicht die ökonomische oder die soziale Realität untersucht. Beides können wir gestalten. Außerdem: Die Betriebe fragen sich, ob sich das rechnet – und das tut es nicht in jedem Fall. Die Einführung von, sagen wir, Robotern ist nicht nur eine Innovation, sondern auch ein Entscheidungsprozess in den Betrieben.

STANDARD: Solche Argumente wirken aber bestenfalls aufschiebend.

Hirsch-Kreinsen: Nun, aus der Arbeitsforschung wissen wir, dass zwischen dem Einsatz neuer Technologien und der Arbeitsgestaltung kein Automatismus besteht. Das, was technologisch möglich ist, sieht in der Realität immer anders aus.

STANDARD: Es gibt auch Studien, die von Jobgewinnen ausgehen?

Hirsch-Kreinsen: Ja. Studien von Boston Consulting und PWC zum Beispiel. Man hat festgestellt, dass es in kleineren und mittelgroßen Betrieben eine gehörige Portion Skepsis gibt, was Industrie 4.0 betrifft.

STANDARD: Das kann man aber auch als mangelnde Innovationsfreude auslegen.

Hirsch-Kreinsen: Es handelt sich dabei wohl eher um eine Portion Realismus! Digitale Produktionstechnologien sind zuerst einmal eine Vision, und zwar die großer Unternehmen: Bosch, Siemens, Daimler, um ein paar deutsche Beispiele zu nennen. Diese Firmen sind Anwender – aber in erster Linie Hersteller, die ihre Produkte verkaufen wollen.

STANDARD: Nun, sowieso heißt es, dass nicht unbedingt Industriejobs gefährdet sind, sondern sich die Wissensarbeit, die mit Informationen arbeitet, völlig neu aufstellt.

Hirsch-Kreinsen: Sicherlich wird es viele Bereiche geben, in denen die Tätigkeiten neu aufgesetzt werden. Medizinische Diagnose zum Beispiel. Wenn die Vorschläge dazu aus Datenbanken aus der ganzen Welt kommen, wird das die Diagnose verbessern. Trotzdem fällt der Arzt nicht weg.

STANDARD: Aber ein Spital wird weniger Ärzte benötigen.

Hirsch-Kreinsen: Auch nicht unbedingt. Wenn die Informationsbasis besser wird und wir Fehler häufiger vermeiden können, heißt das doch nicht, dass wir keine Ärzte benötigen. Die können sich aber anderen, wichtigeren Dingen zuwenden. Das wird auch bei Zeitungen so sein. Der Redakteur muss nicht mehr am Rande des Fußballfeldes stehen und berichten. Wenn ein Tor fällt, können das Programme blitzschnell weitergeben. Und dem Redakteur bleibt die Zeit, weiterzurecherchieren und einzuordnen.

STANDARD: Das klingt doch nach enormen Veränderungen.

Hirsch-Kreinsen: Sicherlich. Aber es ist unsere politische Entscheidung, wie wir die Rationalisierungspotenziale ausschöpfen.

STANDARD: Im Zusammenhang mit Industrie 4.0 wird oft auch von der Möglichkeit einer Reindustrialisierung der Alten Welt gesprochen.

Hirsch-Kreinsen: Auch das ist nur eine These. Es gibt zwar ein paar Beispiele für eine solche Rückholung – aber ob das nur PR ist oder ein Trend, das ist nicht klar. Zum Beispiel Adidas: Der Sportschuhhersteller hat einen Mini-Teil seiner Schuhproduktion zurück nach Oberfranken verlagert. Mit einem enormen marketingtechnischen Aufwand. Da braucht es Forschung, ob dies auch wirklich eine Entwicklung ist, die im Zusammenhang mit dieser technologischen Entwicklung steht. (Johanna Ruzicka, 14.11.2016)