Viele ruhen sich gemütlich auf ihrem kleinen Wohlstandspölsterchen aus – die gesellschaftliche Solidarität ist immer mehr verloren gegangen. Deshalb: Raus aus der Komfortzone.

Foto: http://www.istockphoto.com/Federherz

Seit Wochen. Seit Wochen lese ich beinahe schon mit masochistischen Ausprägungen Kommentare von Lesern in Zeitungen und vor allem von Postern auf Facebook – und bin fassungslos. Ich bin fassungslos, welcher Hass, welche Wut da zu spüren ist, und konnte es nicht einordnen. Dann habe ich Mitte November eine sogenannte "Diskussion" zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer gesehen – und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

Dieser Tage durfte ich eine hochengagierte und interessierte Gruppe von Schulleitern und Lehrern unterrichten. Das Thema war Mobbing, Konflikte und wie man als Lehrer diese Situation auflösen kann oder was man zum guten Klassenklima beitragen kann. Zum Inhalt gehören auch Rangdynamik (nach Raoul Schindler) und der Hinweis auf die Schweigespirale (nach Elisabeth Noelle-Neumann).

Die Dynamik der Gruppe

In der Rangdynamik beschreibt Schindler die Positionen jeder Gruppe: der starke Alpha, der beratende Beta, die vielen mitmachenden Gammas und der diametral dem Alpha gegenüberstehende Omega, der all das verkörpert, was Alpha ablehnt. Gruppendynamik ist so – das spielt sich überall ab und ist an und für sich kein Problem, da Positionen nicht festgezurrt sind, sondern sich verändern können. Doch wenn man der Gruppennorm völlig widerspricht und gleichzeitig ein Omega (oder schwacher Gamma) ist, wird die Dynamik neu befeuert, und es kann Mobbing entstehen.

Nach der OECD-Studie 2015, DER STANDARD hat darüber berichtet, führt Österreich die Mobbingrangliste der 27 untersuchten Staaten an. Wir sind Sieger (eigentlich Verlierer) vor Estland und Russland und haben mit 21 Prozent bei den elf- bis 15-jährigen Buben doppelt so viel systematische Gewalt in Schulen als der OECD-Schnitt mit elf Prozent.

In einem Ungleichgewicht zwischen Täter und Opfer finden gezielte Beleidigungen, Angriffe und Attacken durch Alphas unter Billigung oder aktiver Unterstützung der Gammas über einen längeren Zeitraum statt, aus der sich der Betroffene allein mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr befreien kann.

Hemmendes Meinungsklima

Die Bereitschaft vieler Menschen, öffentlich Meinung zu bekennen, ist abhängig von der Einschätzung des Meinungsklimas. Widerspricht die eigene Meinung der vorherrschenden, gibt es Hemmungen, sie zu äußern. Je ausgeprägter der Gegensatz ist, desto stärker tritt dies zutage.

Aber wie kommt es, dass so viele etwas billigen, was sie nicht gutheißen? Woher kommt die Angst, Meinung zu äußern?

Zivilcourage haben wir in der Schule nicht gelernt, wenn man sich die Daten von OECD und HBSC (Health Behaviour in School-aged Children, WHO) ansieht. Leider lernen wir offensichtlich auch nicht aus der Geschichte. Und viele ruhen sich seit Jahren und Jahrzehnten gemütlich auf ihrem kleinen Wohlstandspölsterchen aus. Wir haben dazu beigetragen und es genauso gebilligt, dass einige wenige immer reicher werden auf Kosten ganz vieler – die Solidarität, die uns lange Jahre als Gesellschaft ausgemacht hat, ist immer mehr verlorengegangen.

Raus aus der Komfortzone

Ich habe Angst vor dem Hass, den ich spüre in besagten Postings und Kommentaren, ich habe Angst davor, mich zu wundern, was alles möglich sein wird – es passieren jetzt bereits Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. Aber wir, die Gesellschaft, müssen raus aus dieser Lähmung, die die Angst macht, wir müssen wieder handlungsfähig werden, unsere Spielräume sehen und nutzen. Wir sind diejenigen, die die Weichen stellen, in welchem Klima wir die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte leben wollen. Oft genug habe ich über die "österreichische Lösung" mit dem goldenen Weg der Mitte geschmunzelt. Jetzt braucht es die österreichische Lösung.

Es braucht das Sowohl-als-auch. Die Kritik, die Unzufriedenheit haben ihre Berechtigung, auch Angst oder Ärger auf beiden Seiten haben Berechtigung. Wir wählen jetzt jedoch nicht die Politiker, die die Richtung vorgeben, wir wählen mit der Bundespräsidentenwahl das Klima, in der eine Veränderung stattfinden wird. Die Richtung bestimmen wir mit der Nationalratswahl. Ich hoffe, dass alle Parteien verstanden haben, dass jede Einzelne Anliegen ernstzunehmender Menschen transportiert – von den Grünen bis zur FPÖ –, aber uns nur die Kooperation aller vor finsteren Zeiten retten wird. Jetzt stellen wir die Weichen und entscheiden uns: gegeneinander oder miteinander. (Petra Sansone, 28.11.2016)