Die Schönheit liegt im Auge der Betrachterin: das Mädchen und ihr Schwein im Wettbewerbsfilm "Okja".

Foto: Festival Cannes

Die Aufregung um Netflix hat in Cannes nun sogar Fake-News-Alarm veranlasst. Freitagmorgen wurde mit "Okja" des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho der erste Film des Streaming-Dienstes im Wettbewerb gezeigt. Beim Logo wurde verlässlich wie zu Miramax-Zeiten gebuht, dann hielt der Protest noch weiter an. Grund dafür war allerdings keine Verweigerungsgeste der Kritik, wie dann voreilig kolportiert wurde, sondern ein technischer Fehler: Man hatte den Film im falschen Bildformat, also mit arg angeschnittenen Köpfen projiziert.

Netflix

"Okja" hat jedenfalls – dies als Info an alle Heimkinobesitzer – die große Leinwand absolut verdient. Schließlich ist der Star des Films ein animiertes "Superschwein", das aussieht wie eine Kreuzung aus Nilpferd und Hausschwein. Es erinnert mithin an die Fabelwesen aus der Werkstatt von Hayao Miyazaki. Es wälzt sich gern putzig auf seinem Rücken, und wenn Gefahr droht, setzt es seinen Stuhlgang effektvoll als Waffe ein.

Schillernde Details

Bong Joon-ho hat schon mit seinem Monsterfilm "The Host" (2006) bewiesen, dass er sich auf großes Unterhaltungskino mit satirischem Einschlag versteht. In "Okja" erzählt er so komisch wie humanistisch beseelt von Methoden einer heuchlerischen Nahrungsmittelindustrie, lässt aber auch am fehlgeleiteten Fanatismus von Tierschützerlobbys kein gutes Haar. Das zehn Jahre lang in glücklicher Symbiose mit dem Mädchen Mija (Ahn Seo-hyeon) aufgewachsene Tier wird als PR-Objekt des Fleischkonzerns aus seiner Idylle gerissen und setzt eine turbulente Rettungsmission in Gang, die von den Hochwäldern Südkoreas bis nach New York führt.

Bong Joon-ho überzeugt nicht nur als geschmeidiger Actionregisseur; die Farbigkeit seiner Filme verdankt sich auch den schillernden Details, mit denen er die Erzählung bereichert. Tilda Swinton verkörpert etwa eine bleiche Konzernchefin, deren Selbstmarketing nur ihre Dummheit verdeckt; Jake Gyllenhaal einen manchmal schon eine Spur zu spleenig agierenden TV-Moderator. Das Herz des Films pocht jedoch in der Liebe des Mädchens zu ihrem dickhäutigen Muttertier.

Auch der ungarische Filmemacher Kornél Mundruczó versucht in "Jupiter's Moon", mit den Mitteln des Genrekinos einen befreiten Blick auf soziale Schieflagen (nicht nur) seines Landes zu gewinnen. Druckvoll und ambitioniert ist der Beginn seines Dramas um einen syrischen Flüchtling, der beim Übertreten der Staatsgrenzen angeschossen wird. Dann folgt die überraschende Wendung ins Fantastische, denn der Protagonist überwindet die Kräfte der Schwerkraft und vermag plötzlich engelsgleich über der Landschaft zu schweben. Das ist zum einen eine effektvolle Geste, um sich von den Fesseln des Sozialdramas hin zu größeren Fragen zu befreien; auf der anderen Seiten spult Mundruczó dann aber doch wieder eher gängige Topoi rund um den Zirkel von Korruption, Ausbeutung, Terror und der Hoffnung auf Erlösung ab. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 19.5.2017)