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Demonstranten ließen Luftballons fliegen, um gegen den Prozess gegen "Cumhuriyet"-Mitarbeiter zu protestieren.

Foto: Reuters

Istanbul/Athen – Über das Organigramm der Zeitung, die sie anklagt, hat sich die Justiz nicht richtig informiert. Eine Statistik über geheime Textbotschaften auf dem Mobiltelefon bricht gleich zusammen. Ein ermittelnder Staatsanwalt ist selbst Verdächtiger in einem anderen Verfahren gegen angebliche Staatsverschwörer: Der Prozess gegen 17 führende Mitarbeiter der türkischen Oppositionszeitung Cumhuriyet vor einem Strafgericht in Istanbul kommt am Montag gleich nach dem Beginn ins Schlingern.

Neun Monate sitzen Chefredakteur, Vorstand und Kolumnisten bereits in Untersuchungshaft. Auch der Karikaturist der Zeitung ist dabei. Sie alle sollen sich wegen Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation und Verschwörung gegen die verfassungsrechtliche Ordnung der Türkei verantworten. Zwischen siebeneinhalb bis 43 Jahren Gefängnisstrafe fordert die Staatsanwaltschaft dafür. Als die Angeklagten am Montagmorgen in den überfüllten Gerichtssaal kommen, stehen die Zuhörer auf und applaudieren aus Respekt und zur Ermunterung.

Viel Andrang

Familieangehörige, Kollegen, Beobachter von internationalen Presseorganisationen und Diplomaten sind im Saal des 27. Gerichts für schwere Straftaten. Der Sitzungssaal im Istanbuler Justizpalast ist viel zu klein für den Andrang.

Kadri Gürsel, ein renommierter Kolumnist, ist der Erste, der seine Verteidigungsrede hält. Er ist Berater des Vorstands, kein Mitglied, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift schreibt. Gürsel erklärt dem Richter und den Staatsanwälten die Organisation von Cumhuriyet, wie Nachrichten gemacht werden, selbst die Buchhaltung der Zeitung. Denn Cumhuriyet ist anders als die regierungsnahen Medien in der Türkei nicht Teil eines großen Mischkonzerns, der von öffentlichen Aufträgen lebt; die Zeitung führt sich selbst mit einer Stiftung.

"Außerhalb der Realität"

Die Vorwürfe gegen ihn, seine angebliche Arbeit für die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, den Ankara für den Putsch im Vorjahr verantwortlich macht, nennt Gürsel völlig grundlos und "außerhalb der Realität". Mit genau 112 Benutzern des Nachrichtendienstes By Lock soll der Cumhuriyet-Kolumnist in Verbindung gestanden haben, glaubt die Staatsanwaltschaft herausgefunden zu haben. By Lock ist eine Anwendung für Mobiltelefone, mit deren Hilfe offenbar Mitglieder des Gülen-Netzwerks zeitweise verdeckt kommunizierten. Gürsel zerlegt in seiner Verteidigungsrede diese Statistik. Am Ende bleiben acht Personen, von denen der Journalist sagt, dass er aus beruflichen Gründen tatsächlich mit ihnen gesprochen habe. Journalistische Neugier könne nicht rechtlich verfolgt werden, stellt Gürsel fest. Dass diese Personen auf ihrem Telefonen auch By Lock installiert hatten, wusste er nicht.

Steven Ellis vom International Press Institute (IPI) in Wien, dessen Vorstand Gürsel auch angehört, nimmt die offensichtlichen Ungenauigkeiten in der Anklageschrift als Beleg für einen politisch motivierten Prozess gegen die führende unabhängige Zeitung der Türkei: "Hier steht der Journalismus vor Gericht." (Markus Bernath, 24.7.2017)