Ein kultiviertes Standl aus den 1920ern. Und das Essen, ob Ganslburger, Raclettesemmerl oder Schaumrolle, ist auch noch super.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Das Standl hat nur eine Woche vor dem jüngsten Lockdown aufgemacht, Inanna Wolf und Luca Tamussino waren aber schon vor der Pandemie von der auratischen Kraft des Zeitungsstandls bezaubert, das seit den 1920er-Jahren an der Ecke Porzellan- und Berggasse in Wien-Alsergrund steht.

Die letzten Jahre war das feingliedrige Kleingebäude verwaist, seit mehr als zwei Jahren bemühten sich die beiden um eine Renovierung. Am langwierigsten war dem Vernehmen nach das Überzeugen der Magistratsbeamten, es auch weiterhin in der Vorkriegs-Originalfarbe, einem satten Ochsenblutrot, belassen zu dürfen.

Keramik unter der Budel

Ist aber alles gelungen, inklusive der Beleuchtung der Verkaufs- und Ausstellungsflächen für zeitgenössische Kunst an der Seite und unter der Budel – aktuell Keramik von Matthias Kaiser, Simone Oberlechner, Anna Riess, Studio Nero und anderen Exponenten der jungen Kunstszene. In der blauen Stunde und am Abend leuchtet das Standl deshalb besonders eindrucksvoll. Aber auch tagsüber reißt es einen beim Vorbeifahren. Der Kiosk ist von einer zurückgenommenen, strahlenden Eleganz, die im Straßenbild von heute auffällt. Was an Essen und Trinken über die Budel geht, kann es aber auch.

Ganslburger mit Rotkraut.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Kein Wunder, die Betreiber sind nicht nur kunstaffin, sondern auch Köchin und Koch von Graden. Wolf hat anderthalb Jahre Cordon-bleu-Ausbildung in Paris hinter sich, betrieb in Brüssel und Wien Cateringküchen und lehrte zuletzt in einer Floridsdorfer Mittelschule Kochen. Tamussino hat bei Christian Petz gekocht, bei Virgilio Martinez im Central (Lima, aktuell Nummer vier der Welt), betrieb am peruanischen Strand einen Kochcontainer und in Wien ein viel beachtetes Pop-up, bei dem ultralokales "fine dining" auf bemoosten Tischen propagiert wurde. So ist das bei den jungen Leuten.

Das Menü wechselt alle paar Wochen, fleischlose Köstlichkeiten dürfen sich dabei besonderen Augenmerks erfreuen. Schweizer Raclette von Jumi wird unterm Salamander geschmolzen, auf eine Semmel von Brotocnik gespachtelt und mit Sauergemüse der absoluten Oberklasse garniert: einerseits marinierte Radieschen mit souveränem Knack und feiner Säure, anderseits Ribisel-Jalapeños, die den Fäden ziehenden Snack mit fruchtiger Pikanz versehen – jetzt schon die mit Abstand beste Käsesemmel dieses Winters.

Weiße Karotten von Robert Brodnjaks Krautwerk werden vorab im Ofen geschmort und vor Ort unterm Grill erwärmt, dann durch eine Salsa aus Miso und reduziertem Karottensaft gezogen und schließlich in Gomasio – gerösteter Sesam mit Salz gemörsert – gewälzt.

Hagebuttenschaumrollen.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Die haben einen Vogel

Ganslburger gibt es auch, was die erste (und wohl einzige) Ganslmahlzeit dieser Saison für den Berichterstatter unvermeidlich machte. Kostet 12,90 Euro, ist aber auch eine ausgewachsene Portion: Auf ein angegrilltes Brotocnik-Bun werden Maronicreme, Rotkraut, reichlich gezupftes Gansl, Pfefferjus, Rotweinzwiebeln und Radicchio di Castelfranco geschichtet, bis das Laberl saftelt wie nur und übervoll mit gutem Zeug bepackt ist.

Schmeckt viel besser als der Großvogel am Teller, trenzt auch mehr. Beim Essen sollte auf den vor dem Standl ausgelegten Perserteppich ("Wir verstehen uns als Salon im Freien") Rücksicht genommen werden.

Zu trinken gibt es auch nur Gutes, das Preblauer ist aber einzig der Vorliebe Tamussinos geschuldet – wer es als präsumtive Warnung vor dem Afterburner von Gansl und Co versteht, hat höchstens selber ein Problem. Beim Punsch verhält es sich ebenso wie beim Gansl, auch hier Saisonpremiere, auch hier Begeisterung: exotische Zitrusfülle dank Kalamansi-Fruchtfleisch, feine Gewürze, wenig Süße – und Alkohol (ja!) nur auf Nachfrage, dann aber mittels freizügigen Schlenkers aus der Ginflasche von den herausragenden Bootlegger-Mixologen. In diesem Sinne: dicht bleiben, bis der Spuk irgendwann vorbei ist! (Severin Corti, RONDO exklusiv, 3.12.2021)

Severin Cortis Restaurantkritiken