"Wenn du ein Tiergehege machen willst, nimm Mehl und Eier. Daraus kannst du machen, was du willst. Aus Fleisch oder Fisch kannst du zehn beliebige Tiere machen, was du eben willst. Wenn du willst, zehn sogar von jeder Art in diesem Gehege." So lauten die ersten Sätze eines Rezepts in der Kochrezeptsammlung des Meister Hanns, dem Leibkoch der Herzöge von Württemberg, die auf das Jahr 1460 datiert wird. Die Erstherausgeberin des Manuskripts ist skeptisch, was die Praktikabilität des ganzen Unterfangens angeht: "Und das letzte Rezept, das Tiergehege, mit einer Burg und Rittern und Damen, die sich darin vergnügen – alles aus essbarem Material – muss ganz ins Reich der Phantasie verwiesen werden, da dies alles schwer zu realisieren ist ..." Das Rezept beschreibt ein aufwendiges Schaugericht. Diese Art von Speisen waren im Mittelalter ein wichtiger Bestandteil von adeligen Festen.

Für den mittelalterlichen Menschen war der Jahreslauf nach dem Kirchenkalender in Fasten- und Festtage eingeteilt, wobei die Fastentage stark überwogen. Die Grundversorgung mit Lebensmitteln war außerdem von Wetter und Klima abhängig, sodass selbst in den Hochzeiten der landwirtschaftlichen Produktion der Hunger eine ständige Bedrohung für die gesamte Bevölkerung darstellte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Feste von allen Gesellschaftsschichten sehr ausgiebig gefeiert wurden. Je reicher der Gastgeber war, desto extravaganter waren die Mahlzeiten und die Unterhaltung, die den Gästen geboten wurde. Im Mittelalter dienten Festmahle in der Regel dazu, politische oder gesellschaftliche Vereinbarungen zu feiern, und die Gäste mussten dabei entsprechend beeindruckt werden.

Ein mittelalterliches Festmahl war ein inszeniertes Ereignis. Die Planung begann mit der Dekoration des Raumes, umfasste die Sitzordnung der Gäste und setzte sich in der akribischen Choreografie des Festmahls selbst fort. Das Festmahl bestand aus einer koordinierten Abfolge von Gängen, die je nach sozialem Status der Gäste variierten. Zwischen den Gängen mussten die Gäste unterhalten werden. Zu diesem Zweck wurden Musikanten, Gaukler, dressierte Tiere, Tänze oder sogar Theateraufführungen in das Programm des Festmahls eingebunden. Aber die Unterhaltung der Gäste beschränkte sich nicht auf die Zeit zwischen den Gängen, die Köche wollten die Gäste auch mit ihren Speisen unterhalten.

Bankett am Hof des französischen Königs Karl V. (Zentrum) im Jahre 1378 in Paris.
Wikipedia, gemeinfrei.

Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt

Überraschungs- und Unterhaltungselemente wurden benutzt, um alle Arten von Gerichten zu entfremden und so das Interesse und Staunen der Speisenden zu wecken. Das begann bei der Färbung einfacher Pürees und der irreführenden Benennung einfacher Speisen, umfasste aber auch aufwendige Gerichte, die wie architektonische Projekte geplant und umgesetzt wurden. Wenn man die in verschiedenen Handschriften überlieferten Rezepttexte liest, so erkennt man nicht nur eine größere Varianz in den sogenannten ‘Schaugerichten’, sondern erhält auch ein detailliertes Bild vom Einfallsreichtum der mittelalterlichen Köche.

Schaugerichte werden in der Regel durch eine Reihe von Faktoren bestimmt: Geschickte Namensgebung kann ein einfaches Gericht wie Sülze in eine Überraschung verwandeln. Schaugerichte erscheinen oft außergewöhnlich, sodass die Gäste auf den ersten Blick nicht sicher sein können, was sie eigentlich serviert bekommen. Am häufigsten ist aber die Veränderung der Zutaten durch Mahlen, Färben und/oder Ersetzen mit anderen Lebensmitteln. Und wie der Name schon sagt, müssen Schaugerichte unterhalten, indem sie einen erhöhten Spaßfaktor bieten und Erstaunen, Schock oder sogar Abscheu hervorrufen. Doch obwohl die mittelalterlichen Köche bei der Umsetzung von Schaugerichten innovativ waren, waren sie nicht die ersten, die ihre Gäste mit einer Kreativität beeindruckten, die über das Konzept einer köstlichen Mahlzeit weit hinausging. Eines der ersten römischen Zeugnisse kulinarischer Täuschung ist die Beschreibung einer mit Drosseln gefüllten Wildsau, die beim Aufschneiden wegfliegen, umgeben von aus Teig geformten Spanferkeln, die den Gästen des Festmahls von Trimalchio im Satyricon des Petronius präsentiert werden.

Schaugerichte: europaweit bekannt

Die verschiedenen nationalen Kochtraditionen haben unterschiedliche Bezeichnungen für diese Art von Unterhaltungsgerichten: Der französische Begriff ist entremets, für etwas, das "zwischen den Gängen" serviert wird. Diese Gerichte überbrückten die Zeit zwischen den Gängen und boten den Gästen Abwechslung. In englischen Texten werden diese Gerichte als sotelties ('subtleties') bezeichnet oder manchmal auch als 'something served out of course'.

Die Geschichte des französischen Wortes lässt sich recht gut nachvollziehen: Es soll erstmals im 12. Jahrhundert in einem satirischen Chanson in einer Parodie auf ein adeliges Festmahl als Bezeichnung für ein Zwischengericht verwendet worden sein; in einem anderen Beispiel aus etwa der gleichen Zeit bezieht es sich auf eine Art szenische Unterhaltung während eines Festmahls. Diese Doppelbedeutung besteht bis ins 16. Jahrhundert: Noch in der spätmittelalterlichen Gastronomie bezeichnete entremets kunstvolle Gerichte, Tischskulpturen, fantasievoll arrangierte Teller, aber auch jede andere Art von Unterhaltung zwischen den Gängen. Das englische soteltie bezeichnete ebenfalls eine "ornamentale Figur, Szene oder ein anderes Design, typischerweise aus Zucker, das als Tischdekoration verwendet oder zwischen den Gängen einer Mahlzeit gegessen wird".

Praktisch betrachtet, verschafften diese Zwischengerichte dem Service- und Küchenpersonal mehr Zeit, um einen Gang abzuservieren und den nächsten vorzubereiten, da sie eine momentane Unterhaltung und somit Ablenkung der Gäste garantierten. Manchmal wurden die Kreationen sogar nur ausgewählten Gästen serviert, während die anderen das Spektakel nur beobachteten konnten. Frühe essbare entremets waren klein und einfach, wie zum Beispiel Weizenbrei, Sülze oder Saucen – wenn auch luxuriös mit Safran gefärbt. Sie entwickelten sich mit der Zeit zu immer aufwendigeren Gerichten, die dem Koch die Möglichkeit boten, sowohl seinen Herren als auch dessen Gäste zu beeindrucken.

Zu diesen Meisterwerken gehörten die berühmten Blackbirds in a Pie, Coqz heaumez (ein gebratener, behelmter Hahn, der wie ein Ritter in einem Turnier auf einem gebratenen Spanferkel sitzt) oder der Cockentrice, bei dem die vordere Hälfte eines Spanferkels an die hintere Hälfte eines Kapauns genäht wird. An der Wende zur Neuzeit wurde es aufgrund der Komplexität, die diese Schaustücke erreicht hatten, sogar notwendig, auch nicht essbare Stücke wie Gemälde, Skulpturen oder Brunnen als Elemente der Ablenkung zwischen den Gängen zu verwenden.

Es gibt nur sehr wenige Aufzeichnungen zu Schaugerichten in den deutschsprachigen Quellen. In den Berichten zur Hochzeit von Hedwig, der polnischen Königstochter, mit Georg, dem Herzog von Bayern, in Landshut im Jahr 1475, dem wohl unterhaltsamsten Ereignis der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in diesem Teil Europas, sind alle Gerichte für das Hochzeitsfest aufgelistet. Aber eine komplett aus Lebkuchen gefertigte Wiege, die wohl Brautgeschenk und Schaugericht in einem darstellen sollte, wird nur beiläufig erwähnt.

Obwohl solche Gerichte in den mittelalterlichen deutschsprachigen Kochrezeptsammlungen recht häufig vorkommen, findet man zeitgenössische Referenzen eher selten. Die Forschung griff den historischen Begriff Schaugerichte (oder Schauessen) auf, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Bezeichnung von Gerichten oder Teilen von Gerichten (zum Beispiel Pastetenköpfen) verwendet wurde. Laut den historischen Wörterbüchern lag der Schwerpunkt jedoch eher auf dem dekorativen und unterhaltenden als auf dem essbaren Aspekt. Aus den Rezepten sind uns nur drei Quellen bekannt, die frühneuhochdeutsche Sammelbezeichnungen für diese Art von Gerichten liefern: ein schympfessen (‘Spaßessen’) oder Ein gepachens das gehoert zu einem kuerczweil. Alle Rezepte beschreiben die berühmte "Pastete mit lebenden Vögeln".

Die bunte Welt der mittelalterlichen Schaugerichte

Einige der mittelalterlichen Kochrezepte deuten an, dass die Gerichte beim Servieren entweder mit Namen vorgestellt wurden oder dass man sich bei Tisch über das Essen unterhielt. Das legt eine Bemerkung in einem Kochrezept für einen "Aal, der auf zwei Arten zubereitet wird" nahe: Der Aal wird gehäutet und mit einer Farce aus Ei gefüllt, dann wird der Kopf des Aals wieder an die Haut genäht und anschließend gebraten. Die Karkasse ohne Haut wird in Wein gekocht. Beides wird miteinander serviert. Im Anschluss an die Servierhinweise kommentiert der Autor: So mag der herr woll sprechen von wann chumbt der ainn all ("So kann der Herr sagen: Nun wird EIN Aal serviert.").

Damit werden die Titel der Rezepte, sofern sie in den Handschriften vorhanden sind, noch wichtiger, als die Forschung bisher angenommen hat. Das erklärt auch einige wirklich witzige Bezeichnungen bestimmter Rezepte wie "Erbsen am Spieß gebraten", "Geröstete Milch", "Tuchpüree" oder "Hosenträger-Sülze". Vor allem letztere klingt spannend: Rehhaut muss enthaart, in mittelbreite Streifen (eben gerade so breit wie Hosenträger) geschnitten, gekocht und dann als klassische Sülze verarbeitet werden. Einige Enden dieser Streifen werden vergoldet und hängen beim Servieren über den Tellerrand. Bei diesem Rezept soll nicht nur der Titel erheitern, sondern auch das optische Erscheinungsbild trägt zur Überraschung bei.

Der optische Eindruck ist natürlich bei allen Schaugerichten wichtig, ganz besonders aber bei Speisen, bei denen bestimmte Zutaten durch andere ersetzt werden. Die zahlreichen Rezepte für Fastenbraten in den mittelalterlichen Handschriften zeigen das deutlich, da sie das visuelle Bild eines (Fleisch-)Bratens nachbilden, oft in beeindruckenden Details (zum Beispiel durch das Spicken des Fastenbratens mit Eiweiß oder Fischfilet).

Ein vielleicht nicht so offensichtliches Beispiel für Nachahmung sind die Rezepte für die Herstellung von Hühnerkeulen aus Hühnerbrust. Bei diesem recht raffinierten Verfahren wird das Brustfleisch zerkleinert, mit Gewürzen, Speck und Weißbrot vermischt und auf den gesäuberten Hühnerknochen gesteckt, sodass sie einer herkömmlichen Hühnerkeule ähnelt.

Rezepte zur Nachahmung von Objekten, die man primär nicht mit der Küche assoziieren würde, zeigen die Verspieltheit der mittelalterlichen Oberschichtküche in ihrer reinsten Form: Bemerkenswert ist dabei die Anzahl der Rezepte, die die Herstellung eines "Igels" beschreiben, wobei jedes Rezept eine andere Hauptzutat (Mandeln, Rosinen, ...) enthält und somit eine Reihe von möglichen Farben für den Igel zur Auswahl stehen. Ein weiteres Beispiel ist die Nachbildung einer "Halskette" aus Teig, die mit Äpfeln und Trauben gefüllt ist.

Helmut W. Klug

Speisen imitieren und verfremden

Auch die Einschränkungen beim Verzehr von Lebensmitteln – entweder durch die Natur erzwungen oder durch die Religion auferlegt – förderten eine besondere Art von kulinarischer Kreativität: die Nachahmung bestimmter Lebensmittel in Zeiten des Mangels oder des Fastens. Die optische Aufmachung der Gerichte ist dabei entscheidend, denn die Täuschung beruht darauf, dass sie aussehen wie etwas, das sie nicht sind.

Die wohl häufigste Art von Rezepten für Imitationsgerichte sind fleischlose Varianten von Fleischgerichten, zum Beispiel die bereits erwähnten Braten. Bei diesen "unechten" Versionen von Gerichten konnte man der Fantasie freien Lauf lassen. Im Mittelalter gab es eine Reihe von Verfahren, Speisen zu imitieren, die von der Veränderung der Konsistenz von Zutaten bis hin zur Täuschung der Gäste durch das Spiel mit bekannten Konventionen reichen. Dabei werden Lebensmittel ersetzt oder so verändert, dass sie eine vollkommen neue Perspektive auf alltägliche Zutaten bieten. Diese Veränderung kann sich auf die physikalische Beschaffenheit oder die Textur (zum Beispiel wird Fleisch so fein gemörsert, dass es wie etwas völlig anderes aussieht) auswirken. Neue Perspektiven ergeben sich aus einem ungewohnten Erscheinungsbild der Speisen, zum Beispiel wenn Zutaten eingefärbt werden. Die Rezeptsammlungen überliefern unzählige Püreerezepte, von denen die meisten auf irgendeine Weise gefärbt sind. Die Färbung mit einer der vielen bekannten Lebensmittelfarben verleiht dem Essen eine besondere Aura.

Der Aspekt der Verfremdung von Lebensmitteln ist jedoch am wichtigsten, wenn es um den Ersatz und das Nachahmen bestimmter Zutaten geht, deren Verzehr während der Fastentage entweder verboten oder je nach Jahreszeit unmöglich war. Eines der wichtigsten Substitute ist die Mandel, die eine Vielzahl von Zutaten wie Milch, Käse, Butter oder sogar Eier ersetzen kann.

Während Mandelmilch und Nusskäse in verschiedensten Ausprägungen heute wieder in Mode sind (im Mittelalter wurden alle Arten von Nüssen, Hanf oder Mohn verwendet), sind Mandeleier wohl eine vergessene Kunst: In einem Rezept für "Mandeln als pochierte Eier" werden die Mandeln gemahlen und in drei Teile geteilt. Der erste Teil wird durch Färben mit Safran in Eigelb verwandelt und mit Weißbrot, Gewürzen und Honig vermischt. Der zweite, noch weiße Teil bildet das Eiweiß, das die Dotter enthalten soll, während der dritte Teil ein wenig verflüssigt und mit Mehl, Zucker und wiederum Safran vermischt wird.

Die Jahreszeiten hatten großen Einfluss darauf, welche Lebensmittel zur Verfügung standen. Das regte zur Nachahmung von Zutaten an, die gerade keine Saison hatten: Ein solches Gericht sind die "Falschen Morcheln um die Weihnachtszeit", bei denen die Pilze aus Teig geformt, mit Backteig überzogen und in Schmalz gebacken werden. Die falschen Morcheln können auch aus Brandteig, Trockenobst oder Fleischpaste hergestellt und mit verschiedenen Füllungen versehen werden. Das Staunen und die Begeisterung darüber, etwas zu bekommen, was es zu einer bestimmten Jahreszeit einfach nicht gibt, macht den Reiz dieser Gerichte aus.

Falsche Morcheln aus Brandteig.
Foto: Helmut W. Klug

Unterhaltung war ein wichtiger Aspekt der Festkultur

Einige der in den mittelalterlichen deutschen Rezeptsammlungen überlieferten Gerichte sind in ihrem Unterhaltungswert bis zur Perfektion geplant und dennoch genießbar geblieben. Durch die Anwendung ungewöhnlicher Kochtechniken schufen Köche erstaunliche Gerichte, die von "einfachen" Braten bis hin zu außerordentlich komplexen, ja manchmal sogar architektonischen Lebensmittelskulpturen reichten. Ausgefallene Kochtechniken werden angewandt, um normale Speisen außergewöhnlich zu machen. Dazu gehören das Überziehen von Braten mit bunten Teigen oder Krusten, das Ausformen von ausgehöhlten und mit Sülze gefüllten Braten, die Zubereitung von Fisch, indem man ihn häutet und die Haut mit einer Farce aus seinem Fleisch füllt, oder die Anwendung von zwei oder drei Zubereitungsmethoden auf ein Stück Fisch oder Aal (Braten, Kochen, Arrosieren).

Das Rezept "Fisch auf drei Arten zubereitet" ist in mehreren europäischen Sprachen überliefert: Den Fisch auf einen Grillrost legen, den Kopfteil mehlieren, den Mittelteil dick mit Leinen umwickeln, den Schwanzteil einritzen; den Kopfteil mit heißem Schmalz übergießen, bis er goldbraun ist, den Mittelteil mit einer Mischung aus kochendem Wein und Wasser begießen bis er gekocht ist, den dritten Teil über der Glut einfach braten lassen.

Ein solches Gericht rief sicherlich Ehrfurcht und Erstaunen hervor und sowohl der Gastgeber als auch der Koch dürften dafür Lob und Bewunderung erhalten haben. Das Rezept zur Herstellung eines Rieseneis aus 30 oder 40 Hühnereiern mit Hilfe von zwei Schweinsblasen ist in vielen Handschriften überliefert und soll die Gäste wohl rätseln lassen, welches Fabelwesen der Gastgeber besitzt, das solch beeindruckend große Eier legen kann.

Auch das Ergebnis der zahlreichen "Krosseier"-Rezepte erinnert eher an einen Zaubertrick als an ein von Menschenhand zubereitetes Gericht: Die Eier werden leicht gekocht, sodass ein Teil des Eiweißes hart wird, dann wird das Ei ausgeblasen. Das Eigelb wird sanft erwärmt und mit grünen Kräutern vermischt, um anschließend wieder in die Eierschalen gefüllt zu werden. Die Eier werden anschließend hart gekocht und dem Gast als ganze Eier präsentiert – natürlich erwartet die Gäste beim Schälen und Schneiden der Eier eine wunderbare Überraschung!

Krosseier sind in der Schale gefüllte Eier.
Foto: Helmut W. Klug

Außergewöhnliche Schaugerichte

Wirklich komplexe Schaugerichte verbinden außergewöhnliche Kochtechniken mit technischem oder gar architektonischem Können. Während die bisher beschriebenen Gerichte außergewöhnlich sind, kann man die folgenden nur als einzigartig bezeichnen: ein flammenspuckender Schweinekopf, ein ganzes Ei oder sogar ein ganzes Huhn, das in einer Glasflasche serviert wird, Petersilie, die auf dem Tisch keimt und wächst, die Pastete mit lebenden Vögeln oder ein komplett gekachelter Küchenofen. Schon bei der Lektüre der Titel wird deutlich, dass diese Gerichte in erster Linie zur Unterhaltung und Überraschung der Gäste gedacht waren. Bei manchen ist es schwer vorstellbar, wie sie gegessen wurden, denn wir wissen aus dem Kochrezept zwar, wie man das Ei oder das Huhn durch den engen Hals in die Flasche steckt, aber wir haben keine Quellen, die uns sagen, wie man es wieder herausbekommt.

Um diese Gerichte zuzubereiten, musste ein Koch sehr erfahren und geschickt sein. Er musste nicht nur seine Technik perfektioniert haben (das Huhn häuten, die Haut im Ganzen in die Flasche stecken, es mit der richtigen Menge Fleisch füllen und auf den Punkt kochen), sich mit Chemie auskennen (den Branntwein im Maul des Schweins beim Servieren im richtigen Augenblick mit einer Glut entzünden, das Kalzium in der Eierschale weit genug auflösen, um sie für das Einsetzen in die Flasche weich zu machen), ein Ofenbauer sein oder zumindest rudimentäre physikalische Kenntnisse haben, wenn er den Kachelofen konstruierte und zusammenbaute: Die Kacheln dieses Ofens bestehen aus einem über einem Holzrahmen frittierten Eierteig. Diese werden auf vorgebackene Lebkuchenstücke mit einer Füllung aus Äpfeln, Rosinen und Gewürzen geklebt und mit Süßigkeiten verziert. Der Lebkuchen bildet den Korpus des Ofens, die Ofenplatte bildet eine weiße Teigplatte, auf die Holzstäbchen und Glut aus gefärbter Mandelmasse gelegt werden. Das Rezept bezeichnet dieses Gericht als praut essen, also ‘Brautgericht’.

Das Schlaraffenland: Ein essbarer Tiergarten

Ein architektonisches Überraschungsgericht, das seinesgleichen sucht, ist das Tiergehege aus der Rezeptsammlung des Meister Hanns. Was er als "Tiergehege" bezeichnet, ist in Wirklichkeit die Beschreibung einer ganzen essbaren Jagdgesellschaft in typisch mittelalterlicher Umgebung: ein ausgedehntes, von Mauern und Zäunen umschlossenes Gelände mit viel Grün und Obstbäumen, ein von einem Wassergraben umgebener Turm mit Fischen darin. Das Gehege beherbergt zehn Wildarten, auf dem Turm befinden sich Damen, Mädchen, Knappen und Ritter, die nach dem zu jagenden Wild Ausschau halten. In der Nähe des Turms gibt es eine Feldküche und ein Festmahl.

Die Beschreibung des Aufbaus des Gerichts ist mit fragmentarischen Kochanweisungen durchsetzt: Männer und Tiere sollen aus Fleisch- und Fischpaste hergestellt werden, die Zäune und Mauern aus verschiedenen Brotteigen, das Grün aus mit Petersilie gefärbter Eipaste und so weiter. Der Rest bleibt unklar oder der Fantasie der Köche überlassen. In der Forschung wurde dieses Rezept aufgrund der recht verwirrenden Textstruktur oft als Scherz oder eher als regelrechte Phantasmagorie abgetan. Objektiv betrachtet ist dieses Rezept im Vergleich mit anderen, auch französischen und englischen Rezepten, aber durchaus nachvollziehbar und strukturiert – zumindest für jene Köche, die man sich als Rezipienten des Textes vorstellen kann.

Es kann als eine große Inspiration für Köchinnen und Köche gesehen werden, die einen fantasievollen Zugang zum Kochen lieben. Das hat auch ein praktischer Umsetzungsversuch dieses Rezepts durch den Verein KuliMa - Kulinarisches Mittelalter an der Universität Graz gezeigt: Sobald das Konzept der Schaugerichte nachvollziehbar und die Gestaltung der Jagdgesellschaft von Meister Hanns ausreichend und auf Basis von historischem Anschauungsmaterial diskutiert worden war, gab es für die Ideenflut zur praktischen Umsetzung kein Halten mehr! Bereits das Vorbereiten und Aufbauen der Landschaft war überaus spannend. Das fertige Gericht vermittelte sehr eindrucksvoll, welches Staunen und welche Spannung die zeitgenössischen Gäste bei einem derartigen Schaugericht erlebt haben müssen. Den Unterhaltungsfaktor  muss man sich als überaus groß vorstellen! Wäre ein derartiges Schaugericht nicht das optimale Weihnachtsessen? (Julia Eibinger, Helmut W. Klug, 21.12.2021)

Helmut W. Klug

Literaturhinweise

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