Johnson bezeichnet seine neuen Pläne zur Abwandlung des Brexit-Vertrags als "relativ triviale Änderungen" und erntet dafür heftige Kritik.

Foto: REUTERS / POOL

London/Dublin – Nur eine Woche nach dem überstandenen Misstrauensvotum in seiner Fraktion hat der britische Premierminister Boris Johnson einen neuen Streit mit der EU vom Zaun gebrochen. Ein am Montag ins Unterhaus eingebrachter Gesetzesentwurf soll die mit cer EU vereinbarte Brexit-Regelung für Nordirland einseitig ändern. Kritik an den Plänen kam von der EU, der irischen Regierung, der Mehrheit der Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament und aus den USA.

Johnson will Europäischen Gerichtshof beschränken

Begrüßt wurde der Schritt hingegen von der unionistisch-protestantischen Partei DUP in Nordirland. Das Gesetz sei notwendig, um Stabilität und den Frieden in der früheren Unruheprovinz zu sichern, sagte die britische Außenministerin Liz Truss. Sie fügte hinzu: "Wir sind weiterhin offen für Gespräche mit der EU." Fortschritte könne es aber nur geben, wenn die EU Änderungen an der als Nordirland-Protokoll bezeichneten Vereinbarung akzeptiere.

London droht, die in dem Protokoll vereinbarten Warenkontrollen zum Schutz des EU-Binnenmarkts zu stoppen und durch eine freiwillige Regelung zu ersetzen. Zudem soll die Rolle des Europäischen Gerichtshofs drastisch beschränkt werden. London will sich auch freie Hand bei Regelungen zur Mehrwertsteuer geben. Nach Ansicht einer großen Zahl von Experten wäre das ein klarer Bruch internationalen Rechts. Die britische Regierung bestreitet das.

EU kündigt Gegenwehr an

EU-Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič machte deutlich, dass eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls nicht infrage kommt. "Das würde für die Menschen und Unternehmen in Nordirland einfach nur weitere rechtliche Unsicherheit bedeuten", sagte Šefčovič am Montagabend. Die EU-Kommission werde nun erwägen, das wegen früherer Verstöße begonnene, dann aber auf Eis gelegte rechtliche Verfahren gegen London wiederaufzunehmen. Auch die Einleitung weiterer Vertragsverletzungsverfahren, die den europäischen Binnenmarkt schützen könnten, werde geprüft.

Irlands Premierminister Micheál Martin bezeichnete den Schritt als "neuen Tiefpunkt", es sei "sehr bedauerlich für ein Land wie Großbritannien, ein internationales Abkommen zu brechen".

Gegenwind für Johnson kam auch aus Nordirlands Hauptstadt Belfast. In einem von 52 der 90 Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament unterzeichneten Brief hieß es, der Gesetzesentwurf stehe im Widerspruch zum ausdrücklichen Wunsch von Unternehmen und Menschen in Nordirland.

Scharfe Kritik kam von der katholisch-republikanischen Partei Sinn Féin, die bei der Regionalwahl im Mai erstmals stärkste Kraft in Nordirland wurde. "Es ist skrupellos, es ist schändlich, und es dient in keiner Weise dem Interesse der Menschen hier", sagte die designierte nordirische Regierungschefin und Sinn-Féin-Vizepräsidentin Michelle O'Neill.

Kritik aus den USA

Lobende Worte fand hingegen Jeffrey Donaldson, der Chef der protestantisch-unionistischen DUP, die in Nordirland aus Protest gegen das Protokoll die Bildung einer Einheitsregierung blockiert. Was die britische Regierung vorgelegt habe, sei eine Lösung, und das sei es, was man derzeit brauche.

Kritik kam auch aus den USA: US-Außenminister Antony Blinken warnte London, die Errungenschaften des Friedensabkommens für Nordirland nicht zu gefährden und dafür "die Verhandlungen mit der EU in gutem Glauben fortzusetzen". Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer "sehr bedauerlichen Entscheidung". "Sie ist eine Abkehr von all den Vereinbarungen, die wir zwischen der Europäischen Union und Großbritannien getroffen haben." Nun werde auch den letzten EU-Kritikern im Vereinigten Königreich klar, "welches Desaster der Austritt für das Land ist", kritisierte der ÖVP-Europaabgeordnete Lukas Mandl.

Johnson betonte hingegen, es sei "der richtige Weg" und notwendig, um das "Gleichgewicht und die Symmetrie" des Friedensabkommen zwischen den probritischen Unionisten und den irischen Nationalisten zu wahren.

Teil des Brexit-Abkommens

Das Nordirland-Protokoll ist Teil des 2019 geschlossenen Brexit-Abkommens. Es sieht vor, dass die zum Vereinigten Königreich gehörende Provinz weiter den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Europäischen Zollunion folgt. Damit sollen Warenkontrollen zum EU-Mitglied Republik Irland verhindert werden, um ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Gegnern und Befürwortern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands zu verhindern. Dafür ist nun aber eine innerbritische Warengrenze entstanden.

Johnson hatte die Vereinbarung im Wahlkampf 2019 gegen den Willen der DUP durchgesetzt und als großen Durchbruch gefeiert. Anschließend gewann er eine deutliche Mehrheit bei der Parlamentswahl. Inzwischen ist er aber wegen der Affäre um Lockdown-Partys am Regierungssitz in Bedrängnis geraten. In der vergangenen Woche musste er sich einer Misstrauensabstimmung in der eigenen Fraktion stellen. Er konnte sich zwar durchsetzen, gilt aber als politisch angezählt. Nach Einschätzung von britischen Kommentatoren will er sich mit dem Schritt die Unterstützung der Brexit-Hardliner in seiner Fraktion sichern. (APA, 13.6.2022)