Eine ganz normale Familie. Oder doch nicht? "All the Good" der Needcompany bei Impulstanz.

Foto: Maarten Vanden Abeele

Die Realität liefert poetische Stoffe, mit denen Künstlerinnen machen sollen, was immer ihnen wichtig erscheint. Wo dieser gegen erbitterte autoritäre Widerstände erkämpfte Konsens nicht gilt, ist die Demokratie gescheitert.

Für die Brüsseler Needcompany unter Jan Lauwers, Grace Ellen Barkey und Maarten Seghers stellt der künstlerische Freiraum ein nicht verhandelbares Terrain dar. Genau das zeigt sie jetzt mit ihrem Stück All the Good bei Impulstanz im Wiener Volkstheater.

All the Good kommt als Theater-Tanz-Performance dynamisch, dramatisch und gepfeffert politisch daher. Ort des Geschehens ist die Werkstatt "Mill" der Needcompany, eine ehemalige Bäckerei im Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Den Kern der Handlung bilden die Rückkehr von Romy, die gerade China bereist hat, und die dort entflammte neue Liebe der Tochter von Lauwers und Barkey zu Elik Niv, einst israelischer Ex-Soldat, heute Tänzer.

Fakt und Fiktion

Richtig: Die Familie Lauwers-Barkey spielt sich selbst, und das mit einer Mischung aus Fakt und Fiktion, wie sie in Politik und Medien nichts, in der Kunst aber alles zu suchen hat. Offen bleibt, was in der Familiengeschichte von All the Good erfunden ist und was tatsächlichen Ereignissen entspricht. Wenn es um politische Positionierungen geht, hört die Fiktion auf: Die Situation der Palästinenser ist unerträglich, die israelische Siedlungspolitik auf deren Gebiet ein Unrecht.

Die Figur des Elik Niv erinnert an Matan Levkowich, dessen mit der Choreografin Claire Lefèvre erarbeitetes Solo Function Man 2016 bei Imagetanz im Brut-Theater gezeigt wurde: Auch Levkowich war Soldat in Israels Armee, bevor er zum Tanz wechselte. Er und Niv sind mit ihren Erfahrungen echte Raritäten im Tanz. Wie Lefèvre bringt auch Lauwers tiefe Scharten zum Vorschein, die der Militärdienst in einem Soldaten hinterlässt.

Palästina ist ebenfalls bei All the Good vertreten – in Form von Jan Lauwers’ monströser Installation aus 800 Ballons, die von einem Glasbläser aus Hebron gefertigt wurden. Mit diesem Werk hat Lauwers, großartig dargestellt von Benoît Gob, echte Probleme. Innerlich zerrissen ist auch Inge Van Bruystegem. Sie spielt Artemisia Gentileschi, die berühmteste Malerin des Barock. Sie weiß nicht, wie sie der Rolle gerecht werden soll, ohne selbst – wie Gentileschi von ihrem Lehrer – vergewaltigt worden zu sein.

Abrechnung mit Kamera

In Grace Ellen Barkey wächst die Unzufriedenheit über die Anwesenheit eines Soldaten so lange, bis sie Elik Niv zu verhören beginnt. Und Tochter Romy rechnet mit ihrer Mutter ab, die immer irgendetwas filmt, indem sie sich eine Kamera in die Vagina einführt und ein Still dieser Aufnahme ihrem Vater Jan zeigt.

In der ehemaligen Bäckerei wohnt also eine ganz normale Familie. Dazu gibt es eine amerikanische Ratte, die das Geschehen kommentiert, eine sprechende habsburgische Krähe und eine ödipal gewürzte Affäre zwischen Barkey und Seghers.

Mikro- und Makropolitik zerfließen, Versagen nistet in menschlicher Größe, und das Künstlersein wird gefeiert, ohne dessen Niederungen zu verstecken. Grundtenor: Wer ihr oder sein Leben mit Kunstschaffen verbringt, kann nicht perfekt sein wollen, weil man dadurch zu etwas Schlimmerem mutieren könnte. "Der Aktivist", sagt Lauwers schon im Prolog, "wird immer zum Unterdrücker."

Weitsicht, Witz, Selbstironie

Viele Herausforderungen rumoren in All the Good, vor allem aber Weitsicht, Witz, Selbstironie und eine unangepasste Sicht auf Kunst und Gesellschaft. Daher alamiert es, dass der Needcompany unlängst in Belgien beinahe die Förderungen gestrichen worden wären: wegen "fehlender künstlerischer Relevanz".

Bei Impulstanz gibt’s noch Grace Ellen Barkeys (hier: Grace Tjangs) Installation Malam/Night im Mumok zu entdecken, und das Festspielhaus Erl zeigt im November die Uraufführung von Amopera zusammen mit dem Klangforum. (Helmut Ploebst, 19.7.2022)