Nicola Sturgeon will mit Schottland in die EU.

Foto: AP/Andrew Milligan

Eines immerhin steht schon fest: Der Lieblingstermin der Nationalisten für die zweite Abstimmung über Schottlands Unabhängigkeit ist kaum einzuhalten. In wenig mehr als einem Jahr, am 19. Oktober 2023, will die Edinburgher Koalition aus Ministerpräsidentin Nicola Sturgeons SNP und den Grünen die 4,2 Millionen Wahlberechtigten erneut über die Ablösung vom Vereinigten Königreich entscheiden lassen. Weil dazu die Zustimmung der Londoner Zentralregierung fehlt, muss nun der Supreme Court über das Anliegen beraten. Bis zu einer Entscheidung würden "mehrere Monate" vergehen, warnte Gerichtspräsident Robert Reed zum Auftakt der mündlichen Verhandlung am Dienstag.

Juristisch gesehen geht es bei dem Verfahren um die Frage, ob die Koalitionsregierung dem Edinburgher Parlament den Gesetzesentwurf über ein Referendum vorlegen darf, dem London nicht zugestimmt hat. Um dies zu erlauben, benötige sie die Zustimmung der Höchstrichter, argumentiert Schottlands Chefjuristin Dorothy Bain. Unsinn, erwidern die Advokaten der Regierung von Premierministerin Liz Truss: Das Gericht solle frühestens dann über die Frage entscheiden, wenn das schottische Parlament tatsächlich den Weg zum neuerlichen Votum freigemacht habe. In jedem Fall gilt die Klärung der juristischen und prozeduralen Fragen binnen eines Jahres als extrem unwahrscheinlich.

Mehrheit 2014 für Verbleib

Im Vorfeld der Abstimmung von 2014 hatten der damalige Nationalistenführer Alex Salmond und der damalige Premierminister David Cameron bereits zwei Jahre zuvor die Bedingungen des Referendums ausgehandelt, ehe das Unterhaus dem schottischen Parlament die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Zustimmung erteilte. Am Ende des monatelangen Abstimmungskampfes votierten die Schotten mit 55:45 Prozent für den Verbleib in der mittlerweile 315 Jahre alten Union mit England.

Seither verweisen Londoner Politiker aller unionsweiten Parteien auf die damalige SNP-Position, wonach die Abstimmung "für eine Generation" gelten werde. Camerons Nachfolgerinnen im Amt haben die Zustimmung zu einem neuerlichen Votum stets verweigert; Premier Truss nannte Sturgeon kürzlich sogar eine "Wichtigtuerin" (attention seeker), die sie "einfach ignorieren" werde. Tatsächlich hat Truss seit ihrem Amtsantritt vor fünf Wochen noch kein offizielles Gespräch mit der demokratisch gewählten Regierungschefin im Norden geführt, worüber diese sich in Medieninterviews bitter beschwerte.

Zurück in die EU

Neben Londons wenig respektvollem Umgang mit den zunehmend autonomen Regionen weisen die Unabhängigkeitsbefürworter innerhalb und außerhalb der dominierenden Partei stets darauf hin, die Rahmenbedingungen hätten sich durch den Brexit komplett verändert. Beim EU-Referendum stimmten die Schotten 2016 mit 62 Prozent für den Verbleib. Im Fall der Unabhängigkeit will Sturgeon ihre Nation an den Brüsseler Verhandlungstisch zurückführen.

Die seit acht Jahren amtierende populäre Regierungschefin hat sich übers Wochenende der Zustimmung des SNP-Parteitags in Aberdeen zu ihrem Vorhaben versichert. "Wir haben alle Voraussetzungen für ein erfolgreiches unabhängiges Land", betonte sie unter dem Beifall der Delegierten. Allerdings trübte Sturgeon selbst das Bild ihres Nationalismus als weltoffen und tolerant, indem sie pauschal die in London regierenden Konservativen verdammte: "Ich verabscheue die Tories und alles, wofür sie stehen", sagte die 52-Jährige der BBC. Damit löste sie nicht nur empörte Proteste schottischer Konservativer aus; auch prominente SNP-Vertreter distanzierten sich von ihrer Chefin. Kleinlaut musste diese später einräumen, sie habe natürlich nicht die gesamte Tory-Wählerschaft gemeint.

Vor acht Jahren scheiterten die Nationalisten vor allem an zwei Themen. Zum einen übte die EU unmissverständlich Solidarität mit ihrem damaligen Mitglied Großbritannien und gab den Schotten zu verstehen, ein etwaiger Beitrittsprozess werde langwierig und mühsam werden. Zum anderen blieben Wirtschafts- und Finanzfragen ungeklärt, beispielsweise die zukünftige Währung des unabhängigen Staates, die Aufteilung der britischen Staatsschuld sowie die fortlaufenden Verpflichtungen für Pensionen.

Willkommenes Signal für die EU

Das erste Problem hat sich, wenn auch nicht aufgelöst, so doch sehr verändert. Zwar gibt es in Brüssel auch jene, die wenig Begeisterung zeigen für den Neu-Beitritt einer Nation, die aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen ihre Landesgrenze zum viel größeren Brexit-Nachbarn im Süden offen halten müsste – werde man sich damit nicht das schwelende Statusproblem von Nordirland in viel größerem Umfang einhandeln, lautet die bange Frage. Andererseits wäre der rasche Beitritt eines EU-erfahrenen, konstruktiven Nettozahlers für den Brüsseler Klub sicher ein willkommenes politisches Signal.

Ungeklärt hingegen bleiben weiterhin die schon vor einem Jahrzehnt aufgeworfenen Fragen zur wirtschaftlichen Stabilität des Landes. Müsste zwischen dem Abschied vom britischen Pfund und dem nicht sonderlich populären Beitritt zum Euro eine eigene schottische Währung eingeführt werden? Wie viel des immensen Energiereichtums aus den Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee sowie den zahlreichen Offshore-Windfarmen fließt in die Edinburgher Kasse, wie viel verbleibt in London?

Neues Papier angekündigt

Nicht zu Unrecht verweisen die Nationalisten auf vergleichbar große nordeuropäische Länder wie Irland, Dänemark oder die baltischen Staaten: Diese würden schließlich auch zurechtkommen. Das Defizit der Edinburgher Finanzministerin lag im vergangenen Jahr bei 12,3 Prozent, während das Minus für das Gesamtkönigreich 6,1 Prozent betrug. Kommende Woche will die schottische Regierung ein Papier vorlegen, das eine Reihe der aufgeworfenen Fragen beantworten soll. (Sebastian Borger aus London, 11.10.2022)