Bei der Belegschaft der Wiener Nachhilfeplattform Go Student hat die Stimmung den Nullpunkt erreicht – Vorweihnachtszeit hin oder her. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit baut das Unternehmen hunderte Stellen ab. Im September wurde von 1.800 auf 1.600 gekürzt, nun kurz vor Jahresende sollen bis zu 650 weitere Jobs wegfallen, wie informierte Quellen berichten. Nach dem USA-Geschäft dürften auch die Zweigstellen in Lateinamerika, Kanada und Skandinavien geschlossen werden.

Go Student bestätigt, sich von "einigen Mitarbeiter:innen verabschieden zu müssen", nennt aber keine offizielle Zahl. "Wir müssen unsere Pläne für kommendes Jahr neu evaluieren", sagt eine Sprecherin. "Wir wollen uns 2023 auf unser zentrales Angebot konzentrieren und müssen leider unser Unternehmen umstrukturieren."

Chatprotokolle und Videos

Was im Unternehmen in den vergangenen Monaten los war, belegen Chatprotokolle, Videos und Erfahrungsberichte der Belegschaft, die dem STANDARD vorliegen. "Ich habe im Sommer 2021 bei Go Student begonnen, damals hieß es, nach einem halben Jahr werden Gehälter angepasst und wir bekommen Gutscheine oder Essensmarkerln. Wir wurden monatelang mit leeren Versprechen hingehalten", erzählt Lukas Klinger – alle, die bei oder mit Go Student arbeiten und mit dem STANDARD sprechen, sie wirken angespannt, nervös und wollen nicht mit ihrem Namen zitiert werden, deshalb wurden alle Namen geändert.

Bis zu 650 Stellen sollen bei Go Student abgebaut werden. Überdies erheben freigestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schwere Vorwürfe. Das Unternehmen äußert sich nicht.
Foto: Der Standard

Meeting mit Folgen

Heuer im Spätherbst habe man nochmals Anpassungen für Jänner "ganz fix" versprochen, sagt Klinger. "Am 13. Dezember wurde dann für 14. ein Onlinemeeting angesetzt, in dem meine ganze Abteilung mit knapp 60 Leuten unerwartet freigestellt wurde."

Ein Video vom Meeting liegt dem STANDARD vor. Mitgründer Gregor Müller spricht die Eröffnungsworte: Das wirtschaftliche Umfeld sei schlecht, man habe die eigenen Ziele nicht erreicht, deswegen bedauere er die "Reduzierung der Workforce", aber es müsse zum Wohl des Unternehmens sein. Das Gespräch führen dann zwei Teamleiter.

Go Student habe im Sinne des Frühwarnsystems die Abteilung am 13. Dezember zur Kündigung beim AMS angemeldet, allen Betroffenen werde eine einvernehmliche Kündigung angeboten. Diese beinhaltet etwa ein zusätzliches Gehalt nach Ablauf der Kündigungsfrist und das Behalten von Laptop und Firmenhandy. Das Angebot müsse innerhalb von vier Tagen unterschrieben werden, wer nicht annehme, werde am 13. Jänner gekündigt, bis dahin läuft die Freistellung.

Freistellung bis Jänner

Die Freistellung wird als Entgegenkommen angepriesen, gemäß § 45a AMFG muss diese 30-Tages-Frist aber eingehalten werden, eine Kündigung in dem Zeitraum wäre ungültig. Das AMS selbst darf sich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zum Frühwarnsystem äußern. "Sie haben nicht lange gefackelt, bereits während des Meetings wurden unsere E-Mail- und Slack-Accounts gesperrt", sagt Klinger. Ein Screenshot aus einer anderen Gruppe zeigt, wie die Mitgliederzahl binnen zweier Tage um fast 400 Mitglieder gesunken ist. Dazu kommt Frust über die Expansionspolitik des Unternehmens. Denn vor rund drei Wochen hat Go Student den deutschen Nachhilfe-Marktführer Studienkreis übernommen.

Go Student legte seit der Gründung 2016 einen kometenhaften Aufstieg hin, gilt neben Bitpanda als einziges Unicorn in Österreich. "Einhorn" bedeutet im Start-up-Sprech, dass die Firmenbewertung mehr als eine Milliarde Dollar beträgt. Im Jänner waren es dann sogar drei Milliarden. "Wachstum um jeden Preis" lautet(e) das Credo. Das hat augenscheinlich seinen Preis.

Felix Ohswald (linsk) und Gregor Müller galten in Österreich als Tech-Stars, Kritik an ihrem Start-up wird aber immer lauter.
Foto: Stefan Knittel; GoStudent

Nicht die erste Kritik

Bereits im Frühjahr geriet Go Student schwer in die Kritik. Damals wurde es Tutoren zu viel. Sie warfen Go Student öffentlich schlechte Arbeitsbedingungen, unfaire oder verspätete Bezahlung, mangelnde Qualität und schlechte technische Infrastruktur vor. Ähnlich wie im Frühjahr reagiert Go Student auch auf aktuelle Anfragen größtenteils mit Floskeln.

Technische Probleme gibt es laut einer anderen – mittlerweile freigestellten – IT-Mitarbeiterin immer noch. "Es fehlen so viele Programmierer, die ganze technische Infrastruktur kann gar nicht besser werden", erzählt Isabella Obermüller. Sie beschreibt eine sehr gute Stimmung in ihrer Anfangszeit vor rund anderthalb Jahren. Von der Euphorie habe sie sich packen lassen.

"Mit der Zeit lief alles aus dem Ruder. Wöchentlich haben 50 bis 70 neue Mitarbeiter begonnen, wie soll sich das ausgehen", sagt Obermüller. Sie habe sich wie in einer Marketing-und-Sales-Firma gefühlt, auch wenn Go Student eigentlich ein Tech-Unternehmen sein solle, sagt Obermüller.

(K)ein Betriebsrat

In jedem Betrieb, in dem fünf Personen dauernd beschäftigt sind, ist ein Betriebsrat zu gründen, heißt es im Gesetz. Hat ein solches Unternehmen keinen, passiert aber auch nichts. Bis zum Sommer jedenfalls beschäftigte Go Student fast 2.000 Menschen, einen Betriebsrat gibt es bis dato allerdings nicht. Das wollte ein Teil der Belegschaft ändern. Chatprotokolle zeigen, wie sich einige organisieren und formieren wollen – ein Spießrutenlauf. "Als im Unternehmen bekannt wurde, dass ein Betriebsrat gegründet werden soll, wurden umgehend Accounts gesperrt und Protokolle gelöscht", sagt Christoph Gruber.

Go Student unterstützt eigenen Angaben zufolge die Gründung eines Betriebsrats. Um den Wahlvorstand zu verkünden, solle es am 28. Dezember eine Betriebsversammlung geben, sagt Gruber, ob diese tatsächlich stattfinden wird, sei aber noch unklar. Mit den Gründern könne man mittlerweile nicht mehr reden, kaum jemand dringe noch zu ihnen durch, meint Gruber. (Andreas Danzer, 20.12.2022)