Smart Caps und Co. sollen helfen Unfälle zu vermeiden.

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Am 25. April 1986 sollte im Kernkraftwerk Tschernobyl im Rahmen eines Sicherheitstests ein Stromausfall simuliert werden. Eigentlich ein Routinevorgang. Alles verlief zunächst nach Plan, in den frühen Morgenstunden war mit der Leistungsabsenkung begonnen worden. Doch während des Experiments stieg plötzlich die Stromnachfrage aus Kiew, weshalb das kontrollierte Runterfahren des Reaktors in die Nachstunden verschoben werden musste.

Nach einem Schichtwechsel kurz vor Mitternacht nahm das Unheil seinen Lauf: Um 0.28 Uhr fiel die Leistung – aufgrund eines Bedienfehlers oder technischen Defekts, das ist bis heute nicht geklärt – auf ein Prozent ab. Anstatt den Reaktor umgehend abzuschalten, versuchten die unerfahrenen Operateure, den Reaktor wieder hochzufahren. Der Ausgang ist bekannt: Es kam zu einer Kettenreaktion und einer Kernschmelze. Um 1.23 Uhr explodierte der Reaktor. Tschernobyl wurde zur Todeszone. 28 Menschen starben bei der Explosion, tausende durch die Folgen radioaktiver Strahlung.

Hätte die Reaktorkatastrophe verhindert werden können? Wer war schuld? Der Mensch? Die Technik? Über das Tschernobyl-Unglück gibt es haufenweise Forschungsliteratur. Eine der interessantesten, wiewohl wenig diskutierten Thesen ist der Schlafmangel der Mannschaft.

Auffällig: Die Katastrophe passierte nachts. Auch die Havarie des Tankers "Exxon Valdez", der am 24. März 1989 vor Alaska auf Grund lief und 38.000 Tonnen Rohöl verlor, soll auf mangelnde Wachheit zurückzuführen sein. Die Crew hatte davor kaum geschlafen.

Liegt’s am Schlafmangel?

Natürlich ist es im Nachhinein schwierig, einen Kausalzusammenhang zwischen Schlafmangel und Reaktorunglück herzustellen. Zahlreiche Studien belegen aber, dass ausgeschlafene Mitarbeiter weniger Fehler machen und in Stresssituationen besonnener reagieren. Ausreichend Schlaf hilft also nicht nur, Unfälle zu vermeiden, sondern auch, jede Menge Geld zu sparen. Mithilfe moderner Technik versuchen Arbeitgeber daher, müde Mitarbeiter frühzeitig aus dem Verkehr zu ziehen.

Die Firma Smart Cap etwa hat einen Spezialhelm entwickelt, der mithilfe eines EEG-Sensors (Elektroenzepalografie) die Hirnströme des Trägers misst. Die Daten werden von einem Algorithmus ausgewertet und auf einer Skala von eins (hyperalert) bis fünf (unfreiwilliger Schlaf) bewertet. Der Vorarbeiter bzw. Vorgesetzte kann dann auf einer App in Echtzeit sehen, wie fit seine Angestellten gerade sind. Wird der Mitarbeiter müde, erkennt dies der Algorithmus an der Veränderung der Gehirnwellen und sendet sofort eine Warnmeldung. Zu den Kunden von Smart Cap gehören Firmen aus dem Baugewerbe, dem Bergbau und der Luftfahrt. Gerade im Bergbau kommt es immer wieder zu Unfällen, weil Arbeiter einnicken. Wenn ein hunderte Tonnen schwerer Muldenkipper umkippt, gefährdet das Menschenleben.

Auch im Straßenverkehr stellt Sekundenschlaf ein erhebliches Risiko dar. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2021 nach Angaben des ADAC 1507 Unfälle mit Verletzten oder Toten durch Müdigkeit am Steuer registriert. Zwar sind moderne Fahrzeuge mit einem Aufmerksamkeitsassistenten ausgestattet, der anhand des Fahrverhaltens (etwa auffälliger Lenkradbewegungen) Anzeichen für Müdigkeit erkennt und zu einer Pause rät. Viele Fahrer überschätzen aber nach wie vor ihre Fähigkeiten.

Alle und alles überwachen?

Amazon ließ daher vor einiger Zeit KI-gestützte Kameras in seinen Lieferwagen installieren, um den Wachheitszustand seiner Fahrer zu überwachen, was arbeits- und datenschutzrechtlich umstritten war, weil der Onlinehändler mit Kündigung drohte, sollten die Fahrer der Verarbeitung biometrischer Daten nicht zustimmen. Firmen wie Smart Eye bieten mittlerweile ausgeklügelte Monitoring-Systeme für Logistik und Luftfahrt, die mithilfe von Sensoren und Kameras Augen-, Gesichts- und Körperbewegungen von Piloten und Fahrern verfolgen.

Auch in klassischen Bürojobs birgt Müdigkeit Gefahren und Gesundheitsrisiken, wenngleich sich diese eher lang- als kurzfristig auswirken. Die Erschöpfungssyndrome durch ermüdende Videokonferenzen – Stichwort Zoom-Fatigue – dürften mittlerweile jedem ein Begriff sein. Microsoft hat bereits die Müdigkeit von Videokonferenzteilnehmern mithilfe von EEG-Wellen erforscht. Ergebnis: Die Probanden, die keine Pause zwischen den Sitzungen machten, wiesen Spitzen in den Gehirnwellen auf, die auf Stress und geringeres Engagement hindeuten.

Auch in Europa laufen Forschungen zu dem Thema. So haben im Rahmen des EU-finanzierten Projekts Mindtooth Wissenschafter ein EEG-Headset entwickelt, das anhand von Sensoren die Hirnaktivität des Trägers misst. Eine KI-basierte Software errechnet dabei neurometrische Parameter wie Arbeitsbelastung, Wachsamkeit und Stresslevel. Das leicht zu tragende, batteriebetriebene Headset, das weniger klobig als eine VR-Brille ist, soll in Flug- und Fahrsimulatoren und perspektivisch auch im Realbetrieb von Bau- und Industriearbeiten zum Einsatz kommen, um Stresssituationen zu vermeiden. Ob ein EEG-Headset die Tschernobyl-Katastrophe verhindert hätte? (Adrian Lobe, 22.3.2023)