Wien – Nur vier Tage nach der Katastrophe steht Beate Meinl-Reisinger im Hohen Haus. Sie redet – wie immer – frei und locker, diesmal über den Arbeitskräftemangel. Meinl-Reisinger greift sich als Reaktion auf einen Zwischenruf der ÖVP theatralisch an den Kopf, scherzt und wird wieder ernst. Für die Vorsitzende der Neos ist diese Nationalratssitzung Business as usual. Die Pinken feiern heuer ihr zehntes Jahr im Parlament. Doch die Laune ist getrübt von den Sorgen einer Partei, die Schwierigkeiten hat, sich zu etablieren – und dennoch irgendwie schon zum Establishment gehört.

Denn auch wenn man es Meinl-Reisinger nicht anmerkt, hat das Ergebnis der Salzburg-Wahl ihre Partei erschüttert. Eigentlich war das Bundesland einer der Hoffnungsgründe für die Neos: Vor allem in der Landeshauptstadt konnte die Partei bei der Landtagswahl 2018 reüssieren. Die wohlhabende, bürgerliche Schicht im urbanen Raum ist die Kernzielgruppe der Pinken. Nicht ohne Grund jubelten die Neos damals gleichzeitig mit dem Einzug in den Landtag dort auch über ihre erste Regierungsbeteiligung auf Landesebene.

Doch fünf Jahre später ist alles anders: Die Wählerinnen und Wähler schmissen die Neos mit 4,2 Prozent der Stimmen aus dem Landtag. Ist der Absturz in Salzburg auch ein Symptom für ein größeres Problem der Neos?

Parteichefin Beate Meinl-Reisinger gibt den Weg zur Nationalratswahl vor.
Foto: apa / gert eggenberger

Gute Umfragen reichen nicht

In der Partei sind sich fast alle einig, dass das Salzburger Ergebnis hausgemacht war. Interne Konflikte und schlechte Kommunikation hätten der Landespartei demnach das Wahldebakel beschert. Mit Sepp Schellhorn ist den Salzburgern zudem ein prominentes Zugpferd mit starkem Profil abhandengekommen – die Parteizukunft des Gastronomen bleibt auch weiterhin ungewiss.

In den österreichweiten Umfragen liegt die Partei konstant bei rund zehn Prozent – viele sehen darin das maximale Potenzial für eine liberale Partei in Österreich. Nur: Umfragen sind keine Wahlergebnisse. Die Herausforderung für die Neos wird sein, die Werte bei einer Wahl zu realisieren.

Denn der Fall Salzburg muss den Neos auch österreichweit als Weckruf dienen. Die Partei konnte die Schwächen im Land nicht mit bundespolitischem Rückenwind kompensieren. Und das, obwohl sie mit Beate Meinl-Reisinger eine eloquente und kundige "Lokomotive" an der Spitze haben, die noch dazu innerparteilich unumstritten ist. Viele der wichtigsten Themen der Neos haben zudem Konjunktur: Die ÖVP wird wirtschaftspolitisch als alte Klientel-Partei gesehen, der liberale Flügel der Schwarzen ist verkümmert – auch dank der Neos. Gleichzeitig ist Korruption ein Dauerbrenner, und die Grünen verlieren in diesem Bereich wegen ihrer Koalition mit der Volkspartei an Profil. Auch hier können die Neos also punkten.

In Salzburg, dem Burgenland und Kärnten sind die Neos nicht im Landtag vertreten.

"Es ist kompliziert" taugt nicht zur Schlagzeile

Oder: könnten punkten. Denn nicht wenige in der Partei sehen die Neos gefangen in der Abwägung zwischen politischen Grauzonen, im Abwägen komplexer Themen. Das mag für die Anhängerinnen und Anhänger der Partei grundsätzlich sympathisch sein – aber "Es ist kompliziert" taugt halt weder zur Schlagzeile noch zum Wahlkampfslogan.

Den Neos fehlt aktuell ein Repertoire an markigen Positionen, die ihnen als Alleinstellungsmerkmal dienen. Gerade einmal mit ihrem deutlichen Infragestellen der Neutralität hat die Partei eine provokante Botschaft, die sie von anderen abhebt. In der Corona-Pandemie war das entschlossene Eintreten für geöffnete Schulen noch ein Faktor – der ist mit dem Ende der Maßnahmen allerdings dahin.

Hoyos: "Pointierter kommunizieren"

Generalsekretär Douglas Hoyos will die Neos deshalb in diesen Wochen auf Wahlkampfkurs bringen – auch mit kantigeren Ansagen. Schließlich wird spätestens im Herbst 2024 ein neuer Nationalrat gewählt. "Wir haben die richtigen Inhalte, wir müssen sie nur pointierter kommunizieren", sagt Hoyos zum STANDARD.

Dem Frust der Bevölkerung müsse man ein Ventil geben – wie das die KPÖ Plus in Salzburg geschafft hat. In ihrer Gründungsphase haben das die Neos schon gemacht, mit Provokation und Aktionismus sind sie angetreten, das "alte System" aufzubrechen. Nach zehn Jahren im Parlament werden sie aber vielfach als Teil genau dieses Systems wahrgenommen. Richtig anecken kann eine Partei der Zwischentöne eben nicht.

Fehlende Neos vor Ort

Aber auch als Organisation stehen die Neos vor Herausforderungen. Verantwortlich für das Salzburger Ergebnis waren auch die schwachen Strukturen außerhalb großer Städte. Auf dem Land gibt es kaum pinke Gemeinderäte, die vor Ort Wahlkampf machen oder in den Jahren zuvor politische Arbeit leisten konnten – während es in so gut wie jeder Gemeinde etwa einen Vertreter oder eine Vertreterin der ÖVP gibt, den oder die die Leute kennen. Diesen massiven Wettbewerbsnachteil haben die Neos nicht nur in Salzburg: Auch in Kärnten gibt es kaum pinke Kommunalpolitik.

Fehlende Neos in den Gemeinden sind aber nicht nur bei Landtagswahlen ein Problem: Auch bei Nationalrats- oder Europawahlen braucht die Partei Vertreterinnen und Vertreter vor Ort, um Broschüren zu verteilen und präsent zu sein.

Für die Neos ist das auch in einem bundesweiten Wahlkampf relevant: Gibt es in Gemeinden vor Ort einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin?
Foto: apa / barbara gindl

Aufbau ist Knochenarbeit

Als Gegenbeispiel für das Strukturproblem nennen Neos-Leute oft die niederösterreichische Landesgruppe. Das ländlich geprägte Bundesland ist strukturell ebenfalls ein hartes Pflaster für die Partei: viele kleine Gemeinden, wenige Städte. Den Zuwachs bei der Landtagswahl im Jänner von 5,2 auf 6,7 Prozent feierte man deshalb fast wie eine absolute Mehrheit: Die Neos haben sich in Niederösterreich etabliert, auch wenn man bei drei Mandaten im Landtag hält. Und seit dem Erfolg verzeichne man einen rasanten Zuwachs an Mitgliedern, sagt Landessprecherin Indra Collini zum STANDARD.

Das Aufbauen der Strukturen im Land sei viel Arbeit gewesen, sagt Collini. "Das ist wie ein knochenharter Vertriebsjob", sagt die Landtagsabgeordnete. Die Neos verweisen stolz auf 34 von 537 niederösterreichischen Gemeinden mit pinken Gemeinderäten. Es sind kleine Schritte hin zu einer starken Partei. (Sebastian Fellner, 4.5.2023)