Stellen wir uns vor, eine Fähre mit mehreren Hundert Touristen gerät auf hoher See im Mittelmeer in Not. Trotz aller Rettungsbemühungen sinkt sie, vielen, die sich unter Deck befanden, wird das Unglück zum tödlichen Verhängnis – darunter Frauen und Kinder. Das Entsetzen wäre riesig. Europaweit und auch in Österreich hätten die Regierungsspitzen tagelang kein anderes Thema.

Nur 104 Menschen überlebten die Schiffskatastrophe im Mittelmeer, sie wurden am Freitag in ein Flüchtlingslager gebracht.
EPA/Yannis Kolesidis

Wie anders sind da die Reaktionen nach dem Untergang des völlig überfüllten Seelenverkäufers, in dessen Bauch wahrscheinlich mehrere Hundert Menschen vor Griechenland wehrlos ersoffen sind! Von Athen wurde nach diesem seit Jahren schlimmsten Flüchtlingsunglück eine dreitägige Staatstrauer angeordnet. Darüber hinaus jedoch gab es quer durch Europa nur wenig politische Kommentare. In Österreich meldete sich aus der Regierungsriege bis Freitag nur Innenminister Gerhard Karner zu Wort – auf Standard-Anfrage.

Diese Zurückhaltung sei verständlich, mag nun ein Einwand lauten. Immerhin befanden sich auf dem havarierten Migrantenschiff wohl keine Personen aus Österreich. Das stimmt, doch es trifft nicht den Punkt. Die ums Leben gekommenen Menschen waren wie wir Mütter und Väter, Geschwister, Söhne und Töchter. Das Fehlen gezeigten Mitgefühls für sie seitens der Politik verrät Verlegenheit und Kalkül.

Verlegenheit, weil es für zuständige Politiker schwer ist, zuzugeben, dass gegen das Sterben an der EU-Außengrenze und auf den Schlepperwegen in der Union bisher nichts Wirkungsvolles unternommen wurde. Bestehende Abkommen und Geldtransfers haben vielmehr vor allem das Ziel, Flüchtende aus Europa fernzuhalten. Wer trotzdem kommen will oder muss, tut das unter Lebensgefahr.

Politisches Kalkül wiederum zeigt es, weil zwar in der EU erst kürzlich ein Umbau des Asylwesens auf den Weg gebracht wurde, dieser sich aber erneut um den Umgang mit irregulärer Migration herumschwindelt. Geplant sind unter anderem Lager in EU-Grenzstaaten, wo über die Asylantragszulassung von Flüchtenden mit geringer Anerkennungswahrscheinlichkeit entschieden wird. Glaubt wirklich jemand, dass die dort Abgelehnten von ihren Einreisewünschen Abstand nehmen werden? Schleppern und Menschenhändlern wird das Geschäft so sicher nicht verdorben.

Den Schleppern auf die Spur zu kommen, die für die tödliche Schiffsfahrt Verantwortung tragen, ist jetzt in Griechenland das Gebot der Stunde. Ein Wasserfahrzeug derart zu überladen, dass – wie Fotos zeigen – an Deck Mensch an Mensch eng gedrängt stehen muss, ist ein Verbrechen. Dahinter steckt eine Geldgier, die vor Massensterben nicht zurückschreckt.

Überfällig ist es aber auch, die kursierenden Asylabschreckungsstrategien zu überdenken, die nicht verhindern, dass sich Tausende Todesgefahren aussetzen, um Europa zu erreichen. Stattdessen braucht es dringend eine realistische Flüchtlings- und Migrationspolitik, die wirkliche Kontrolle mit mehr legalen Einreisemöglichkeiten verbindet. (Irene Brickner, 16.6.2023)