Im Community-Artikel erklärt Martino Heher, wieso die jüngsten politischen Ereignissen in Guatemala ein Wiederaufstehen demokratischer Strukturen bedeuten könnten.

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Guatemala vom 25. Juni hat es in sich. Entgegen allen Umfragen wird es zu einer Stichwahl zwischen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE und Bernardo Arévalo von dem relativ jungen linken Antikorruptionsbewegung Movimiento Semilla kommen. Diese Wahl samt ihrem Ergebnis ist aus vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Aber der Reihe nach.

Dass Sandra Torres mit 15,78 Prozent die Stärkste unter den Kandidaten wurde und es in die Stichwahl geschafft hat, ist das Einzige nicht Außergewöhnliche dieser Wahl. Das prognostizierten die Umfragen schon seit geraumer Zeit. Torres ist die umstrittene Kandidatin der sozialdemokratischen UNE und Ex-Frau des ehemaligen und mittlerweile verstorbenen Präsidenten Guatemalas Álvaro Colom, der einerseits – mit seiner dafür zuständigen Frau Torres – sinnvolle und erfolgreiche Sozialprogramme ("mi familia progresa" und "bolsa solidaria") für die arme, rurale Bevölkerung aufstellte, die jenen Lulas in Brasilien ähnelten und der Armutsbekämpfung, Bildung sowie der Bekämpfung der unter Kindern verbreiteten Unterernährung durch Geldtransfers und Lebensmittelausgaben dienten.

Personen schwenken die Nationalflagge Guatemalas
Anhänger der Partei Movimiento Semilla feierten am 26. Juni die Wahlergebnisse vor dem Präsidentenpalast in Guatemala-Stadt.
Foto: APA/AFP/LUIS ACOSTA

Andererseits war Colom auch in Korruptionsaffären verwickelt, die einen mehrjährigen Hausarrest zur Folge hatten und ihm auch einen Platz auf der "Engel List" des US-Außenministeriums einbrachten, die Personen anführt, die demokratische Prozesse oder Institutionen bedrohen, sich in erheblichem Maße an Korruption beteiligt haben oder die Ermittlungen zu solchen Korruptionshandlungen in Guatemala, Honduras und El Salvador behindert haben. Nichtsdestotrotz besitzt Torres, die sich, um bei den Präsidentschaftswahlen antreten zu dürfen, von ihrem Mann scheiden lassen musste, da Familienmitgliedern ehemaliger Präsidenten eine Kandidatur nicht erlaubt ist, vor allem in den ruralen Gebieten noch ein gewisses Maß an Popularität, die sie nun schon zum dritten Mal in die Stichwahl brachte.

Eine Wahl mit außergewöhnlichen Ereignissen 

Aller Umfragen zum Trotz schaffte es Bernardo Arévalo vom Movimiento Semilla mit 11,8 Prozent als Zweiter in die Stichwahl. Arévalo ist der Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas, Juan José Arévalo, der in den 1940er-Jahren dringend nötige Strukturreformen in der Landwirtschaft, im Arbeitsschutz, im Bildungssystem und bezüglich der Festigung der Demokratie umsetzte. Sein Nachfolger Jacobo Árbenz Guzmán setzte seinen Reformkurs fort. Der Fokus der beiden lag auf der Agrarreform, da Guatemala damals noch von Latifundien und Haciendas durchzogen war, die einigen wenigen Großgrundbesitzern und Konzernen gehörten.

So besaß die United Fruit Company (heute Chiquita) mehr als 50 Prozent des Ackerlandes Guatemalas, von dem sie aber nur 2,6 Prozent bewirtschaftete. Der Großteil der ruralen Bevölkerung musste für miserable Löhne und unter schweren Arbeitsbedingungen auf diesen Latifundien arbeiten und leben. Das Ziel der Reform war es, das von den Großgrundbesitzern nicht genutzte Land zu parzellieren und an Bauern zu verteilen, die dadurch selbstständig werden und ihre Lebensumstände verbessern konnten.

Grassierende Korruption und Straffreiheit

Die United Fruit Company, deren hochprofitables Geschäft von den Reformen der ausbeuterischen Arbeitspraktiken und der Landreform (marginal) betroffen war, führte eine einflussreiche Lobbykampagne durch, um die USA zum Sturz der guatemaltekischen Regierung zu bewegen. Diese war erfolgreich, und Árbenz wurde in einem coup d'état, der Ergebnis einer verdeckten CIA-Operation mit dem Codenamen PBSuccess war, 1954 abgesetzt. Damit endeten die "Zehn Jahre des Frühlings", die zehn Jahre demokratischer Politik, die zwischen zwei Perioden des Autoritarismus lagen und von der Umsetzung von sozialen, politischen und vor allem Agrarreformen, die in Lateinamerika gehörigen Einfluss entwickelten, geprägt waren. Sowohl Arévalo als auch Árbenz mussten ins Exil gehen, und es folgten 36 Jahre Bürgerkrieg und von den USA gestützte Militärdiktatoren und zivile autoritäre Präsidenten.

Dies führt uns zum heutigen Präsidentschaftskandidaten Bernardo Arévalo, Juan José Arévalos Sohn, der im Exil geboren wurde, komplett unerwartet in die Stichwahl gekommen ist und die Hoffnung vieler Guatemalteken auf eine bessere Zukunft verkörpert. Man muss nämlich wissen, dass Guatemala in den letzten 20 Jahren wie wenige andere Länder dieser Welt von Korruption und Straffreiheit geprägt war. Der Staat samt all seinen drei Gewalten wurden von einem Netzwerk von Kartellen, Politikern und Unternehmern (der in Guatemala sogenannte pacto de corruptos) unterwandert, sodass von der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur noch eine Fassade beziehungsweise teilweise nicht mal diese übriggeblieben ist.

Der Staat ist so unterwandert, dass für einige Jahre die Uno mit ihrer CICIG (Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala) Teile der Strafverfolgung übernehmen musste, um Schwerverbrechen zu verfolgen und Immunität zu verhindern. Sie arbeitete zu erfolgreich, sodass sich der pacto de corruptos mit dem damaligen Staatspräsidenten Morales gezwungen sah, diese Zusammenarbeit zu beenden und die Kommission des Landes zu verweisen. Seit diesem Vorfall im Jahr 2019 ging es mit der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Guatemala noch einmal bergab. Journalisten, Staatsanwälte und Richter, die nicht dem pacto de corruptos angehören, mussten in Scharen das Land verlassen. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften wurden schamlos mit genehmen Personal besetzt. Inbegriff der Aushöhlung der Justiz ist die Generalstaatsanwältin Porras, die selbst auf der oben erwähnten "Engel List" aufscheint. Dieser Absturz gipfelte in der fadenscheinigen Verhaftung und Verurteilung des renommierten Journalisten José Rubén Zamora. Die von ihm gegründete Zeitung el Periodico musste deshalb vor einem Monat schließen.

Frust und Ärger über Elite

Bis zur Verkündung des Wahlergebnisses schien es so, als könnte der pacto de corruptos weitermachen. Die Kandidaten "oficialistas", die dem bisherigen Präsidenten Giammattei nahestehen, der sich selbst Vorwürfe der illegalen Wahlkampffinanzierung und Korruption gefallen lassen muss und der scharf gegen aufrichtige Journalisten, Richter und Staatsanwälte vorging, schienen in den Umfragen voran und wurden von unterwanderten Behörden auch unterstützt, weshalb schon das Gerücht einer geschobenen Wahl umherging. So ließ die oberste Wahlbehörde (Tribunal Supremo Elctoral) Torres, die – um genau zu sein – nicht gänzlich dem pacto zugerechnet werden kann, ihm aber auch nicht vollständig fremd ist, bei der Wahl antreten, obwohl ihr Vizepräsidentschaftskandidat als evangelikaler Pastor laut Verfassung eigentlich nicht antreten dürfte.

Ähnlich erging es der Kandidatin Zury Ríos (Valor – ultrarechts), die als Tochter des ehemaligen Diktators und verurteilten Völkermörders Efraín Ríos Montt ebenfalls nicht antreten dürfte, von dem unterwanderten Gericht aber zugelassen wurde. Demgegenüber wurden einigen Antikorruptions- und Antiestablishment-Oppositionsparteien die Kandidatur aus fadenscheinigen Gründen verwehrt, wie unter anderem dem indigenen MLP (Bewegung zur Befreiung der Völker), der den ehemaligen Ombudsmann für Menschnerechte Guatemalas als Vizepräsidentschaftskandidaten aufgestellt hatte. Darüber hinaus kreisten über die Wahl Gerüchte des Stimmenkaufs, eine Krankheit die Guatemala schon lange plagt. Es schien also so als würde der pacto weiter an der Macht bleiben und sich weiterhin gegenseitig schützen können.

Dies ist auch der Grund weshalb rekordverdächtige 17,4 Prozent ungültig (der eigentliche Wahlsieger) und 7 Prozent weiß gewählt haben. Die Bevölkerung hat dadurch ihren Frust und Ärger über eine korrupte Elite zum Ausdruck gebracht, die das Land runterwirtschaftet und schlecht führt, um sich selbst zu bereichern und bislang auch Großteils damit davongekommen ist.

Stichwahl mit großer Bedeutung

Trotz allem wurde Bernardo Arévalo – vor allem dank der Stimmen aus den urbanen Metropolregionen – von der Partei Movimiento Semilla zweiter und hat somit im August die Chance, in den Präsidentschaftspalast in Guatemala-Stadt einzuziehen. Seine Partei ist eine progressive, liberale Zentrumspartei, die einen Fokus auf die Korruptionsbekämpfung legt und als eine der wenigen diesbezüglich auch glaubwürdig ist. Neben diesem Hauptthema will man die Demokratie Guatemalas wieder stärken (vor allem die beschädigte Justiz) und den Umweltschutz vorantreiben, der in den letzten Jahren im Interesse von Bergbaukonzernen und Holzschlägern stark vernachlässigt wurde.

Eine interessante Anekdote der Geschichte ist, dass 2019 die erfolgreiche Vorgängerin von Porras, Thelma Aldana, Spitzenkandidatin des Movimiento Semilla war, ihre Kandidatur jedoch auf dubiose Weise verhindert wurde und sie aufgrund von Morddrohungen und willkürlicher Verfolgung – wie viele andere in den letzten Jahren – ins Exil fliehen musste und bis heute nicht zurückkehren konnte.

Im August wird die Stichwahl stattfinden, und dies wird ein entscheidender Moment für die zukünftige Entwicklung des Landes sein. Die Frage wird sein, ob Arévalo bis dahin in den ruralen Gebieten genug Bekanntheit erlangen kann und die ungültigen und weißen Stimmen auf seine Seite ziehen wird. Gegen den gut geölten und finanzierten Apparat von Torres, die nun auch vom restlichen pacto, der um seine Pfründe und Freiheit fürchtet, unterstützt werden wird, gestaltet sich das nicht sonderlich leicht. Freilich wird sich der Weg in eine demokratischere und rechtsstaatlichere Zukunft auch im Falle eines Sieges Arévalos als steinig gestalten, da der pacto trotz allem weiterhin eine Mehrheit im Parlament haben wird. (Martino Heher, 5.7.2023)