Präsident Recep Tayyip Erdoğan, seit 20 Jahren an der Macht in der Türkei, hat das Nato-Gipfeltreffen im Juli in Vilnius durch seine flexible Erpressungstaktik gegen den schwedischen Nato-Beitritt dominiert. Die mit Begeisterung begrüßte Aufhebung seines Vetos gegen Schwedens Aufnahme war unter anderen die Folge der Zusage aus Washington für die Lieferung von F-16-Kampfjets.

In der letzten Minute forderte Erdoğan als weitere Bedingung die Wiederaufnahme der ausgesetzten EU-Beitrittsgesprächen mit der Türkei. Er ließ die völlig unrealistische Forderung fallen, da es ihm in erster Linie um konkrete Forderungen in Teilbereichen geht: über die Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger, Modernisierung der Zollunion zwecks Ausweitung der Handelsbeziehungen und neue Finanzzusagen.

Recep Tayyip Erdoğan
Von einer Abkehr vom autokratischen Regierungsstil kann keine Rede sein: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
APA/AFP/LUDOVIC MARIN

Nach der Wiederwahl Erdoğans für weitere fünf Jahre und angesichts der wachsenden strategischen Bedeutung der Türkei infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte Brüssel tatsächlich Fühler ausgestreckt, um die Beziehungen zu verbessern und Erdoğan zu ermutigen, das Veto gegen die schwedische Nato-Mitgliedschaft aufzuheben. Einige Tage nach dem Gipfel stellte sich heraus, dass die Schweden-Geschichte doch noch nicht abgeschlossen wurde. Erdoğan hatte die Ratifizierung des Schweden-Beitritts durch das türkische Parlament auf Oktober verschoben, um noch vor der Veröffentlichung des nächsten EU-Berichts über die Türkei ein Druckmittel zu haben.

Die Wirtschaftskrise mit einer Inflationsrate von über 100 Prozent erzwingt in mehreren Richtungen außenpolitische Korrekturen, so auch eine Annäherung an die Ukraine und eine gewisse Distanzierung von Russland. Konzessionen der EU könnten den westlichen Unternehmen zwar neue Chancen bieten. Sie würden aber zugleich die Position des Autokraten stärken. Erdoğan hat auch in der Vergangenheit den Spieß immer wieder umgedreht und für jeden einzelnen Schritt eine Gegenleistung gefordert.

Von einer Abkehr vom autokratischen Regierungsstil und der Besserung der Menschenrechtslage kann indessen keine Rede sein. Nur ein Beispiel: Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Reporter ohne Grenzen nimmt die Türkei unter 180 Staaten den 165. Platz ein. Kein Wunder, dass sich wegen der wirtschaftlichen Misere und des Verfolgungsdrucks die Zahl der türkischen Asylbewerber in Deutschland im Vorjahr verdreifacht hat. Sie dürfte heuer weiter steigen.

"Keine Panik, Freizügigkeit für Türken ist kein Thema. Das Einzige, was freizügig reist, sind die Lügen in der Politik."

Mit dieser sarkastischen Beruhigung der deutschen Öffentlichkeit schließt der seit 2016 im deutschen Exil lebende türkische Spitzenjournalist und ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuryet, Can Dündar, seinen scharfen Artikel (FAZ, 20. 7.) gegen die Heuchelei der europäischen Staatschefs beim letzten Gipfeltreffen ab: "Kein einziger Staatschef stand auf und sagte: Was heißt hier EU-Mitgliedschaft? Sie setzen ja nicht einmal die Urteile des europäischen Menschengerichtshofs um. Die Bestechung mit dem Ja zu Schweden hat die europäischen Staatschefs (…) offenbar hinreichend zufriedengestellt". (Paul Lendvai, 24.7.2023)