Mann in Badehose und Schwimmbrille 
Papa (62) blickt der Masters-WM in Japan entspannt entgegen, sagt er. Es geht um die Erfahrung. Trainiert wird im Schwimmbad Traun.
Johanna Jaksch

Ein Anruf spätabends heißt: Papa ist im Krankenhaus, wieder einmal. Am 4. Dezember 2020 überlegt seine Frau Claudia, ob sie mich anrufen und mir Bescheid geben soll oder lieber nicht. Ob sie erneut unsere Familie in Sorge versetzen soll, nur um wohl ein paar Stunden später Entwarnung geben zu können. Wie schlimm ist schlimm genug? Am Ende wählt sie meine Nummer, wieder einmal. Wenn mit ihrem Papa was wäre, würde sie es schließlich auch wissen wollen. Auch wenn sie schon ahnt, dass ich bereits beim Abnehmen des Telefons weinen werde.

Es sind jetzt Wochen vergangen, seit der Absonderungsbescheid von seiner Corona-Infektion auslief. Im System ist er als gesund erfasst, aber seinem Herzen hat niemand Bescheid gegeben. Immer noch fühlte es sich in seiner Brust so an, als würde etwas nicht stimmen. An manchen Tagen wurde das Schlafzimmer im ersten Stock unerreichbar. Als die Rettung das erste Mal kam, ging alles schnell. Claudia findet danach einen Zettel auf dem Tisch, die Einsatzkräfte mussten ihn vergessen haben. "Akutes Vorhofflimmern, Verdacht auf Infarkt", hatten sie notiert.

Es war noch nicht lange her, da waren wir gemeinsam auf dem Rad unterwegs. Das Biken, vor allem bergab und möglichst knifflig, war unser Ding. Wer sein Rad liebt, der schiebt, heißt es. Papa und ich haben es hunderte Höhenmeter im Gebüsch hinaufgetragen und die besten Trails erkundet. Unsere liebste Abfahrt war ein steiler Wanderweg. Radfahren verboten! Aber Papa hatte mit dem Bauern, dem der Wald gehört, einen Deal ausverhandelt: Im Sommer dürfen wir den Trail nutzen – wenn wir nur so schnell fahren, dass wir bei Wanderinnen und Wanderern sofort abbremsen können –, dafür helfen wir im Herbst bei der Wegpflege oder am Hof aus. Einmal haben wir bis zum Einbruch der Dunkelheit versucht, die Schlüsselstelle zu durchfahren, das Rad zig Mal wieder hochgetragen, noch einmal probiert. Nach einem gescheiterten Versuch sagte er manchmal so Dinge wie "Na ja, es gibt ja nix zu gewinnen", und ich stimmte ihm zu, aber lassen konnten wir es trotzdem nicht.

Was bleibt?

Aus dem Spital kommt die Info, dass es Herzrhythmusstörungen seien. "Durch das Vorhofflimmern kann das Blut nicht so gut gepumpt werden. Wenn Blut nicht ständig in Bewegung ist, verdickt es. Es kann zu Verstopfungen kommen, im Herz wäre das ein Infarkt, im Gehirn ein Schlaganfall", erklärt er trocken. Ob ihn das echt so kaltlasse, fragen meine Schwester und ich. Na ja, man könne es eh nicht ändern.

Papa, das ist der Radlfahrer. Das war erst der Schwimmer, dann der Läufer, aber immer: der Sportler. Der, der bei den Jungen mithält und – das hört er besonders gern – oft als Jüngerer durchgeht. Was bleibt, wenn ein so großer Teil der Identität plötzlich wegfällt? Wer ist Papa ohne Sport?

Mann krault in einem Pool
Trainiert wird im Schwimmbad Traun. Dort sind auch diese Bilder entstanden – fotografiert von meiner Schwester.
Johanna Jaksch

Aus den gemeinsamen Radtouren wurden plötzlich halbstündige Nordic-Walking-Runden. Die Abfahrt, die er früher 15-mal pro Tag mit dem Bike gefahren ist, begehen meine Schwester, er und ich jetzt mit Stöcken. Aber er lässt es sich nicht nehmen, trotzdem die Geschichte jeder Wurzel zu erzählen.

Eine Zeitlang schickt er statt Radfotos Aufnahmen von Blumen oder Spinnennetzen im Morgentau in unsere Whatsapp-Gruppe "Meine Mädchen :-)))". Seine Smileys haben immer mindestens drei Münder. Typisch Papa beziehungsweise Vatl, wie wir Töchter ihn nennen.

Die Herzprobleme bleiben ständiger Begleiter. Täglich blinkt seine Smartwatch kurz auf: "Verdacht auf Vorhofflimmern", steht auf dem Display. Er weiß genau, was dann zu tun ist: Akutmedikament einnehmen, sofort hinlegen und warten. Mit den Medikamenten – täglich drei: ein Betablocker, ein Blutverdünner und eines prophylaktisch gegen Ablagerungen in den Gefäßen – hat er es gut im Griff, sagt er immer wieder. Trotzdem muss er Wanderungen mit Claudia abbrechen, wird beim Wellnessen in der Sauna bewusstlos, und mit dem linken Fuß dürfte etwas nicht stimmen. Eine Nervenschädigung?

Aber wenn ich mit ihm telefoniere – auch noch ein Jahr nach seiner Corona-Infektion –, erzählt er, wie gut es ihm gehe. "Mah, das ist schön zu hören", sage ich am Ende des Telefonats. Kurz danach schreibt mir meine Schwester eine Nachricht. Er dürfte uns wohl wie so oft hintereinander angerufen haben. Und ihr Gespräch dürfte ähnlich verlaufen sein. "Ich mach mir Sorgen um den Papa", schreibt sie. "Weil er so tut, als wär er in bester Verfassung, und das stimmt halt nicht." – "Ich mir auch", antworte ich.

Das war im März vergangenen Jahres. Ein paar Wochen später versucht er die Medikamente auszuschleichen. Mit einem erneuten Ruf der Rettung dann die Gewissheit: "Ohne Medikamente wird es einfach nicht mehr gehen."

Zweite Chance

Als Jugendlicher stand die Überlegung im Raum, ob er das Schwimmen professionell angehen sollte. Potenzial hatte er. Damals war seine beste Zeit auf 100 Metern eine Minute. Aber sein Vater, mein Opa, war ein Patriarch, der seinesgleichen sucht – und auch Sportler. Da war kein Platz, kein Geld, um noch jemanden in der Familie zu fördern. Noch dazu bei sechs Kindern. Man möge sich die Situation nicht ausmalen, wenn der Sohn dann gar erfolgreicher geworden wäre als er selbst. Wer sportlich erfolgreich war, erntete Opas Anerkennung. Wer zu erfolgreich war, seine Wut.

Das war vor mehr als 40 Jahren. Heute hängt Papas erstes Seniorenticket vom 22. Juni 2021 aus dem Schwimmbad Neuhofen an der Krems quasi als Souvenir an der Pinwand in der Küche. "30 Cent billiger!", sagt er und muss verschmitzt lachen. Es muss von einem der selten gewordenen Badbesuche sein. Das Schwimmen in Jugendjahren war nicht mehr als eine entfernte Erinnerung, sein Fokus gehörte längst dem Biken. Am liebsten radelte er auf El Hierro. Als er 2016 zum Radfahren dort war, verliebte er sich in die kanarische Insel. Seitdem ist er regelmäßig dort, kennt die Bewohnerinnen und Bewohner gut und jeden Trail wie seine Westentasche. Dort ein Häuschen in der Pension, das wär’s.

Mann steht in Badehose und mit Handtuch um den Hals in einem Schwimmbad
Bei der Masters-WM in Fukuoka wird er im Open-Water-Bewerb, im Freistil und Rückenkraul an den Start gehen.
Johanna Jaksch

Auf El Hierro gibt es jährlich drei große Sportevents. An dem Mountainbikemarathon hatte er längst teilgenommen, der Laufbewerb kommt nicht mehr infrage. Und dann ist da noch der Schwimmbewerb im offenen Meer, die Travesía Las Calmas … Warum eigentlich nicht? Er könnte es doch wieder einmal versuchen, denkt er bei seinem jüngsten Aufenthalt.

Vergangenen September meldet er sich beim Schwimmverein Traun an und geht regelmäßig zum Training. "Du, Walter, Japan. Wäre das nicht was für dich?", fragt ihn der Präsident des Vereins, nachdem er ihn ein paar Wochen beobachtet hatte. Mit seinen Zeiten könnte er sich locker qualifizieren. Könnte er wirklich? Er hatte keine Vergleichswerte, schließlich ist er seit Jahrzehnten nicht auf Zeit geschwommen. Aber probieren könnte er es. Und das tat er. Die Qualifikation für die 200 Meter Freistil im Februar in Wien beginnt holprig. Er startet zu schnell, teilt sich seine Kraft nicht gut ein. "Ich bin komplett eingebrochen", sagt er danach. Von den sieben Wenden macht er bei zweien nicht einmal mehr eine Rollwende unter Wasser, dafür hat er zu wenig Luft. Ein Blick aufs Ergebnis aber zeigt: Er hatte das Limit um drei Sekunden unterboten. In den restlichen Disziplinen qualifiziert er sich nahezu mühelos. In gut einer Woche wird er bei der WM der Masters, also in seiner Altersklasse, in Fukuoka an den Start gehen. "Masters klingt einfach ein bissl besser als die Alten", sagt er und schmunzelt.

Alles gut :-)))

Sein behandelnder Arzt segnet das ab, begrüßt es sogar. Schwimmen ist schonender fürs Herz-Kreislauf-System als andere Sportarten. Die Herzrhythmusstörungen haben sich seither verbessert, kommen immer seltener. Oft hat er eine Woche kein Vorhofflimmern, manchmal sogar zehn Tage. Ob das wegen des Schwimmens ist oder weil schlicht die Genesung vorangeschritten ist, weiß niemand so genau. Ist aber auch egal.

Mehr Gedanken machen sich manche Bekannte und Familienmitglieder um den Druck, der oft hinter sportlichem Ehrgeiz steckt und bei meinem Papa womöglich noch mit der Stimme meines Opas spricht. "Du musst ihm nicht mehr gefallen", sagt eine enge Vertraute, als er von seiner Qualifikation erzählt. Erst die Marathons, dann die Radrennen, jetzt die Schwimm-WM. Warum musste immer alles gleich ein Wettkampf sein?

Mann schwimmt mit Delfintechnik in einem Pool
In Japan wird er zwar keinen Lagenbewerb absolvieren, Delfinschwimmen ist aber immer Teil seiner Trainings.
Johanna Jaksch

Ich selbst habe keine Ahnung von Schwimmen, aber ich höre ihm gerne zu, wenn er sich im Thema verliert. Seine Kondition sei noch nicht gut genug, dass er nach der Wende noch eine Körperwelle dranhängen könne, sagt er vor ein paar Wochen auf die Frage, wie es im Training laufe. 15 Meter dürfte man laut Regelwerk nach der Wende noch unter Wasser sein, und eigentlich könnte man das gut ausnützen. Aber das wird es bei ihm nicht spielen. Macht ja nix, "es gibt ja nix zu gewinnen".

Solange er fit ist, ist alles gut. Er geht regelmäßig zur kardiologischen Untersuchung. Das letzte EKG hat gezeigt: Wenn er kein Vorhofflimmern hat, kann er sich voll belasten. "Aber auch das ist relativ", sagt er. "Früher war 120 mein Erholungspuls, jetzt strenge ich mich bei 120 ordentlich an." Und manchmal, immer seltener, zeigt die Pulsuhr 170 an. Dann nimmt er sein Medikament, zuletzt vier pro Tag, die Maximaldosis, als er Rad fahren war.

"Es gibt Tage wie heute, da schnaufe ich wie ein Walross, wenn ich ein Stockwerk hinaufgehe. Aber grundsätzlich geht’s mir gut :-)))", hat er mir vergangene Woche geschrieben. Seine Berichte sind realitätsgetreuer geworden, würde ich sagen. Das waren sie immer und ich bloß übermäßig besorgt, würde er womöglich sagen. Vielleicht tut es aber nichts zur Sache. Er denke ohnehin nicht darüber nach, was er nicht mehr könne, sondern über das, was er sehr wohl noch könne, erzählt er bei einem gemeinsamen Abendessen.

Sich selbst mit früher vergleichen sei unnötig, damit wolle er seine Zeit nicht verschwenden. "Es gibt ja nix zu gewinnen", wiederholt er. Nun ja, streng genommen einen WM-Titel. Und jede Menge Lebensqualität. (Magdalena Pötsch, 29.7.2023)