Guybrush aus
Bei "The Legend of Monkey Island" schlüpfen Fans erstmals nicht selbst in die Haut von Möchtegern-Pirat Guybrush Threepwood.
Rare

Tief in der Karibik bewegt sich die Kamera auf eine kleine, dunkle Insel zu, während im Hintergrund sanfte Reggae-Klänge auf das kommende Abenteuer einstimmen ... "Monkey Island"-Fans kennen das schon von 1990, als der Blick auf Mêlée Island den Startschuss für ein Franchise gab, das in puncto Humor und Storytelling auch drei Jahrzehnte später noch immer unangefochten ist. Und doch ist es diesmal anders: Denn diesmal blicke ich nicht auf eine statische Cut-Scene, sondern kann das Schiff selbst steuern, mit dem ich auf die Insel zufahre – bis ich es dann auch recht ruppig in bester Jack-Sparrow-Manier gegen den Pier knallen und anschließend sinken lasse.

Dies ist kein vollwertiges, alleinstehendes "Monkey Island"-Spiel – denn ein solches hat das Originalteam ja schon im Vorjahr veröffentlicht und damit selbst die größten Skeptiker auf die Plätze verwiesen. Nein, "The Legend of Monkey Island" wurde ohne das Zutun von "Monkey Island"-Mastermind Ron Gilbert entwickelt und kombiniert die Charaktere und Settings der klassischen Point-and-Click-Adventure mit der 3D-Welt von "Sea of Thieves". Oh je, "Monkey Island" und 3D? Da werden doch Erinnerungen an den verfluchten vierten Teil wach ... wie schlimm kann das wohl werden?

Frag mich etwas zu "Loom"

Einmal das Schiff erfolgreich auf Grund gesetzt, bewege ich mich über den atmosphärisch knarrenden Pier in die legendäre "Scumm Bar" und stelle zu meinem großen Entzücken fest, dass dort alles so ist, wie ich es in Erinnerung habe: der Koch, der Hund, die drei Piratenkapitäne – und auch der Typ names Cobb, der auch 33 Jahre nach dem Erscheinen von "The Secret of Monkey Island" noch immer über "Loom" reden möchte. "Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst", gesteht mein Avatar. Der Typ vorm Bildschirm hingegen hat "Loom" damals schon gespielt, war begeistert und ist nun entzückt, dass dieses Easter Egg erneut integriert wurde.

Sea of Thieves: The Legend of Monkey Island - Announcement Trailer
Sea of Thieves

Es ist nicht der einzige Fan-Service, über den sich alte Nostalgiker wie ich beim Spielen von "The Legend of Monkey Island" freuen können. Denn erstmalig ist es möglich, Mêlée Island frei in 3D aus der Egoperspektive zu begehen, und dabei haben die Entwickler extrem viel Wert auf Details gelegt: Der Stadtplan ist dem Pixelabenteuer von 1990 authentisch nachempfunden, etliche Details wurden an der richtigen Stelle platziert. Und zu den Rätseln gehört unter anderem, im Hafengelände zu tauchen oder zum berühmten Ausguck hinaufzusteigen. Von dort hat man nochmals einen guten Blick auf das verschlafene Dörfchen. Und das alles begleitet von Michael Lands legendärem Soundtrack.

"Sea of Thieves" als zweifelhaftes Vehikel

Moment mal: Rätsel? Ja, die gibt es hier natürlich auch. Und sie sind gemeinsam mit der Handlung und diversen technischen Ungereimtheiten jenes Wermutströpfchen, das sich ungut bemerkbar macht, wenn man als Fan aus dem Staunen herausgekommen ist und sich fragt, was man hier eigentlich verloren hat. Denn erstmalig in der Geschichte des "Monkey Island"-Franchises spielen wir nicht als Guybrush Threepwood, sondern sollen diesen aus einer Traumwelt befreien, in die es ihn im Rahmen seiner Flitterwochen verschlagen hat und in der er sich für den Gouverneur von Mêlée Island hält.

Bis wir zu Guybrushs Anwesen vordringen können, gibt es diverse Rätsel zu lösen, und diese bedienen sich gerne der Mechanik von "Sea of Thieves". So müssen an einer Stelle Seile mit einem Säbel durchtrennt werden – und wer "Sea of Thieves" zuvor noch nie gespielt hat, der sollte sich dementsprechend durch das Tutorial kämpfen oder muss punktuell die Google-Suche strapazieren, um den Umgang mit Freibeuter-Schneidwerkzeug zu erlernen.

Andere "Rätsel" wiederum sind so stumpf, dass sie es niemals in einen klassischen "Monkey Island"-Teil geschafft hätten. So muss im Rahmen eines äußerst überflüssigen Grind-Quests die gesamte Stadt nach herumliegenden Goldstücken abgesucht werden, damit man sich anschließend ein Kostüm kaufen kann. Besonders bitter: Sowohl am stationären PC als auch in der Cloud-Version des Spiels schienen die Achterstücke bei meinem Anspielen anschließend nicht im Inventar auf. Eine erneute Google-Suche ergab, dass dies gelegentlich vorkommt und an einer hakenden Synchronisierung mit den Servern liegt. Bitte was? Probleme wie diese gab es früher wahrlich nicht – und so breche ich meinen Kurzurlaub in der Karibik doch frühzeitig ab, noch bevor ich auf die fast schon omnipräsenten Aufforderungen zum Erwerb einer virtuellen Le-Chuck-Verkleidung anspringen kann.

"Monkey Island" hat Potenzial – nutzt es!

Als ich den Computer abdrehe und von der wilden Piratenkaribik ins trostlose Wien zurückkehre, denke ich mir nur: ach, wie schade. Das hat doch so schön angefangen, das war mit so viel Liebe umgesetzt, von Musik über Grafik bis hin zu all den vielen Easter Eggs und Anspielungen. Warum muss es über 30 Jahre nach der Pionierzeit des Genres im Jahr 2023 dann ausgerechnet an der Technik scheitern?

Denn das Franchise hat durchaus Potenzial, wie die ersten Spielminuten von "The Legend of Monkey Island" zeigen. Und zwar nicht nur für das eigene Stammgenre, sondern auch für die Portierung in bisher unbefahrene Gewässer. Der daraus resultierende Appell ist ein einfacher: bitte mehr davon, aber das dann vernünftig! Von mir aus auch in der Welt von "Sea of Thieves", aber eben technisch sauber und mit cleveren Rätseln. Gut möglich, dass sich mein Wunsch erfüllt: Immerhin sollen im Rahmen der Kooperation insgesamt drei Teile erscheinen. Es gibt also noch Potenzial. (Stefan Mey, 13.8.2023)