Quito – Bei der letzten Debatte der Präsidentschaftskandidaten in Ecuador vor der Wahl am Sonntag blieb ein Platz leer: Da hätte eigentlich Fernando Villavicencio stehen sollen – doch der war erst wenige Tage zuvor erschossen worden. Sein zentrales Thema, die hohe Gewaltkriminalität, zu deren Opfer er wurde, hatte schon den ganzen Wahlkampf dominiert, denn in Ecuador hat dieses Problem gewaltige Ausmaße angenommen: Innerhalb von nur sechs Jahren hat sich die Mordrate in dem lateinamerikanischen Land verfünffacht.

Mit kugelsicherer Weste und Helm steht der Journalist Christian Zurita auf der Bühne
Mit kugelsicherer Weste und Helm steht der Journalist Christian Zurita auf der Bühne. Er setzt die Wahlkampagne des in der Vorwoche ermordeten Kandidaten Fernando Villavicencio (auf dem T-Shirt abgebildet) fort.
REUTERS/HENRY ROMERO

Mit einer Rate von 26,6 Morden pro 100.000 Menschen hat das kleine, einst friedliche Andenland inzwischen fast Venezuela, Honduras und Kolumbien erreicht, die Dauerspitzenreiter in dieser traurigen Statistik. Der Sicherheitsapparat ist von der organisierten Kriminalität infiltriert. Jeder vierte Mensch in Ecuador lebt in Armut. Nimmt man Wirtschafts- und Gesundheitskrise und politische Instabilität hinzu, so stehen die Zeichen in dem Land auf Sturm. "Das ist der perfekte Nährboden für populistische Harte-Hand-Politiker", meint die Sicherheitsexpertin Carla Alvarez.

Video: Wahl in Ecuador im Zeichen von Gewalt und Instabilität
AFP

International viel Aufmerksamkeit erregen zwei parallel stattfindende Umweltplebiszite, die unter anderen von der Wirtschaftsagentur Bloomberg thematisiert wurden. Dabei muss die Bevölkerung über den Stopp von Rohstoffprojekten entscheiden: Bei dem einen geht es um Bergbau in einem Biosphärenreservat in den Anden – und beim anderen um Erdöl in einem Teil des Yasuni-Nationalparks im Amazonas. "Wenn diese Plebiszite Erfolg haben, wäre es ein deutlicheres Zeichen des Aufbruchs als das leere Geschwätz auf den Klimagipfeln", sagt der ehemalige Erdölminister Alberto Acosta, der einer der Mitinitiatoren der Volksbefragung war.

Wer hat Chancen? Wer nicht?

Die Neuwahlen waren im Mai anberaumt worden, weil der liberale Präsident Guillermo Lasso einem drohenden Amtsenthebungsverfahren wegen Korruptionsvorwürfen zuvorkommen wollte und den Kongress auflöste. Von den verbleibenden Kandidaten haben laut Umfragen vier Chancen, in die Stichwahl einzuziehen. Eine ist Luisa González, Abgeordnete der linken Bürgerrevolution, der politischen Plattform des Expräsidenten Rafael Correa. Sie verspricht eine Erhöhung der Sozialhilfen, gepaart mit einer wertkonservativen Agenda, die sich unter anderem strikt gegen Abtreibung stellt, selbst bei Vergewaltigung. Damit steht sie ganz in der Tradition Correas, der sie tatkräftig vom Exil aus unterstützt. Seit 2017 lebt Correa in Belgien. Im April 2020 wurde er wegen Bildung eines korrupten Netzwerks in Abwesenheit zu acht Jahren Haft verurteilt. Die belgische Regierung gewährte ihm politisches Asyl.

Ein weiterer Spitzenkandidat ist der ehemalige Vizepräsident Otto Sonnenholzner. Der 40-jährige Ökonom, Akademiker und Radiomoderator wird von mehreren eher konservativen Parteien und Bürgerbewegungen unterstützt und vertritt gemäßigte, technokratische Positionen. Auch dem Umweltschützer Yaku Pérez, der sich gegen Rohstoffabbau und für die Indigenen einsetzt, werden Chancen eingeräumt. Allerdings hat er bei dieser Wahl aufgrund von Differenzen die Unterstützung des einflussreichen indigenen Dachverbandes Conaie verloren.

Im Gegensatz zu diesen dreien ist Jan Topic ein politischer Neuling. Der Sohn eines reichen, in Korruptionsfälle verwickelten Telekomunternehmers mit französisch-ecuadorianischer Doppelstaatsbürgerschaft hat mit seinem Versprechen einer harten Hand den Wahlkampf aufgemischt. Er wird unter anderem von der rechtsliberalen Sozial-Christlichen Partei unterstützt, deren Hochburg die Hafenstadt Guayaquil ist. Der 40-Jährige, der nach eigenen Angaben in der französischen Fremdenlegion diente und als Scharfschütze an Militäroperationen in Afrika teilnahm, bekam in den Medien den Beinamen "Rambo". Er kopiert Duktus und Stil des autoritären Millennial-Präsidenten von El Salvador, Nayib Bukele.

Drogenkartelle direkt angegriffen

Topic hat politisch am ehesten von dem Mord an Villavicencio profitiert, der ersten Ermittlungen zufolge auf eklatante Fehler in dessen Sicherheitsschema zurückzuführen war. Villavicencio hatte die Drogenkartelle direkt angegriffen, war aber auch an der Aufdeckung von Korruptionsskandalen der Regierung Correa beteiligt. Sein Journalistenkollege Cristián Zurita wird ihn bei der Wahl ersetzen.

Alle sind jedoch weit entfernt von den 40 Prozent plus zehn Prozentpunkte Abstand zum Nächstplatizerten, die für einen Sieg in der ersten Runde nötig sind. Außerdem sind über 30 Prozent der rund 13 Millionen Wahlberechtigten unentschlossen. Viele werden sich vielleicht erst in letzter Minute an der Urne entscheiden, in Ecuador herrscht Wahlpflicht. Die neue Regierung wird wenig eigene Akzente setzen können. Sie führt lediglich das vorzeitig abgebrochene Mandat von Lasso bis 2025 zu Ende. (Sandra Weiss, 20.8.2023)