Im Community-Artikel fordert Stefan Waschmann eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Sinn und Zweck von Kollektivverträgen.

30 Liter Milch, 90 Liter Bier, 1 Kilogramm Butter oder 4 Kilogramm Wildbret: Das sind nicht nur sichere Wege in eine Gesundheitskrise, sondern allesamt monatliche Entgeltbestandteile ("Deputate") österreichischer Kollektivverträge, die neben Geldleistungen erfolgen. Abgesehen von den gesundheitlich fragwürdigen Mengen stellt sich auch die Frage, wie es diese wohlschmeckenden, aber intransparenten Entgeltbestandteile ins Jahr 2023 geschafft haben. Insbesondere, da Deputate oft in Produktionsbranchen zum Einsatz kommen, in denen eher der Grundlohn eine Auffettung brauchen könnte.

Protest der GPA
Im Zuge der Kollektivvertragsverhandlungen kommt es immer wieder zu Demonstration. Dabei sollten noch viel grundlegendere Veränderungen gefordert werden – die auch für die Arbeitgeberseite sinnvoll wären.
APA/HELMUT FOHRINGER

Diese Natural-Deputate sind Relikte aus einer Zeit, in der die Abgabe von Lebensmitteln an MitarbeiterInnen tatsächlich noch so etwas wie eine kalorienseitige Grundsicherung darstellte. Heute noch haben Deputate den Vorteil einer Steuerfreiheit, allerdings bietet die österreichische Gesetzeslage inzwischen eine ganze Palette an zeitgemäßeren steuerbegünstigten Instrumenten: Das reicht von Mitarbeiterrabatten für die eigene Produktpalette bis hin zum Öffi-Ticket oder Jobfahrrad. Das ist ebenfalls steuerfreier Sachbezug und nützt zudem Klima und Gesellschaft.

Staubschicht über Minimundus

Die Existenz solcher Fossilien der Naturalentlohnungen in Kollektivverträgen ist ein rheumatisches Symptom eines sinnvollen, aber völlig verstaubten Systems. Die Kollektivvertragslandschaft mit ihren tausenden verschiedenen Verhandlern und Verhandlerinnen – zumeist aus Wirtschaftskammer und Gewerkschaft – ist eine Art arbeitsrechtliche Faksimile österreichischer Verzwergungstendenzen. Das Ergebnis der meist angegrauten Verhandlungsrunden ist nicht selten eine Fortschreibung 50 Jahre alter Gepflogenheiten, kombiniert mit einem Hang zu Schmalspurkollektivverträgen. Folgerichtig besitzt Kärnten einen eigenen Kollektivvertrag für die Arbeiter und Arbeiterinnen auf Kärntner Golfanlagen. Und die neun österreichischen Zusatzkollektivverträge für Zuckerbäcker und Zuckerbäckerinnen bedeuten, dass Backkünste in jedem Bundesland unterschiedlich entlohnt werden.

Unruhe im Kuchenparadies

Da fragt man sich freilich schon: Sind für die Zubereitung von Linzer Torten andere Kompetenzen notwendig als beim Backen einer Sachertorte? Oder weichen die Belastungen und Arbeitsbedingungen in Tiroler Backstuben von jenen in der burgenländischen Tiefebene ab? Wohl kaum, und das ist der EU auch ein ordentlicher Dorn im Auge. Während in Österreich der Kollektivvertrags-Föderalismus fröhliche Urstände feiert, wurde im Juni 2023 die EU-Lohntransparenzrichtlinie veröffentlicht, die ab 2026 gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit vorsieht. Ab dann ist der Wert der Arbeit nach nachvollziehbaren Kriterien wie Kompetenzen, Belastungen, Verantwortung und Arbeitsbedingungen zu bewerten. In Österreich sind heute aber – abseits nicht nachvollziehbarer regionaler Unterschiede – eine Vielzahl an Kollektivverträgen mehr oder weniger unverhohlen diskriminierend.

Fiktion schlägt Fakten

Im KV des Güterbeförderungsgewerbe beispielsweise erhalten Garagen-Hilfsarbeiter mehr Gehalt als Buchhalterinnen. Durch objektive, diskriminierungsfreie Kriterien kamen diese Verwerfungen im Gehaltssystem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zustande. Es sind stattdessen Macho-Kriterien und blindes Fortschreiben tradierter, diskriminierender Logiken, die gerne vornehmlich von Frauen ausgeübte Berufe unterbewerten. Allerdings werden heute die betroffenen Unternehmen weder Lagerarbeiter noch Buchhalterin finden – die Einstiegsgehälter liegen 2023 bei 1.745 Euro für die Buchhalterin, 1.819 Euro für den Garagenarbeiter (für 40 Stunden). Diese Lohnkurve trägt maximal zur Abschreckung zukünftiger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei, nicht aber zu fairen Löhnen.

Österreichische Kollektivverträge als Erfolgsmythos

Das österreichische Kollektivvertragssystem gilt mit 98 Prozent Abdeckungsgrad (gegenüber knapp über 50 Prozent Deutschland) als Erfolgsgeschichte. Kollektivverträge sind jene Ebene des Interessenausgleiches, auf der Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen gemeinsamen, pragmatischen und sozial verträglichen Nenner finden (sollen). Sozial verträgliche Abschlüsse werden da ebenso getätigt, wie auch mal Lohnzurückhaltung geübt werde, wenn die betroffene Branche gerade am Boden liegt. Und die vieldiskutierte Arbeitszeitreduktion manifestiert sich in Form erster Vorboten: In vielen Kollektivverträgen finden sich bereits Regelungen zur Vier-Tage-Woche oder zu weiteren Urlaubswochen.

Der Fluch der Verzwergung

In realitas hüpfen eine Handvoll Branchen diese Regelungen vor. Leithammel-Kollektivverträge wie der Metaller- oder Handels-KV geben die jährliche Marschrichtung vor, kleinere Branchen trotten brav hinterher und werden erst hinsichtlich der Details kreativ. Das Ergebnis sind Nischen-Kollektivverträge, die abenteuerliche Sonderregelungen treffen. Ein Beispiel: Wird der Jagdgast in Tirol vom angestellten Jagdmitarbeiter (im Tiroler Berufsjäger-KV) erfolgreich zum blutigen Erfolg geführt, so gebührt dem Mitarbeiter eine Prämie ("Schussgeld"). Hat der fröhliche Jagdgast ein Murmeltier geschossen, gebühren dem Mitarbeiter 43 Euro, der Auerhahn erfreut die Geldbörse mit 79 Euro, und wenn ein Steinbock vom Gast abgekragelt wird, sind es 124 Euro für den Angestellten.

Gordischer Knoten sucht Lösung

Insgesamt drängt sich zunehmend ein Eindruck der ausgefransten Orientierungslosigkeit auf. Die früher so nützlichen kollektivvertraglichen Vereinbarungen entfernen sich Stück für Stück von allen Lebensrealitäten. Diskriminierende Lohnbildungen, lächerlich niedrige Lohnkurven, endlose Seniorität und ein schier unüberblickbares Potpourri an Zeitabgeltungen und Sonderwürsten führen zunehmend zu Frust bei betroffenen ArbeitnehmerInnen – und ArbeitgeberInnen.

Eine Besinnung auf den ursprünglichen Sinn und Zweck von Kollektivverträgen inklusive sachlich gerechtfertigter, realistischer Mindestgehälter wäre dringend geboten. Sie waren eigentlich dazu da, Fairness, Nachvollziehbarkeit und Schutz vor Übervorteilung von (schwächeren) Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sicherzustellen. Und genau dahin sollten wir wieder zurückkommen. Denn diese Ziele sind in Zeiten von Arbeitskräftemangel und diskriminierungsfreien EU-Lohn-Vorgaben aktueller denn je. (Stefan Waschmann, 31.8.2023)