Ob Roboter bauen, eine KI füllen oder ein Spiel programmieren: Informatik könnte oft mehr als das, was in den Schulen gelehrt wird.
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Die Sommerferien sind offiziell vorbei. Nach dem Start im Osten sind mit dieser Woche auch in West- und Südösterreich wieder rund 648.000 Kinder und Jugendliche in der Schule. Damit sitzen laut Statistik Austria 1,15 Millionen junge Menschen in Österreichs Klassen.

Das neue Schuljahr bringt in der Primarstufe und Sekundarstufe 1 auch neue Lehrpläne, die rollierend in Kraft treten – das heißt: Sie gelten im Schuljahr 2023/24 für die ersten Klassen in Volks- und Mittelschulen sowie AHS-Unterstufen. Im Jahr darauf treten sie auch für die jeweils zweiten Klassen in Kraft.

21st-Century-Skills

Die neuen Lehrpläne sehen beispielsweise einen stärkeren Fokus auf Finanz- und Wirtschaftsbildung vor oder den Punkt "Umfassende Landesverteidigung" und das "Österreichische Modell der Interessenvertretung und Sozialpartnerschaft". Gefördert werden sollen demnach die sogenannten 21st-Century-Skills wie Kooperation und Kreativität, außerdem fächerübergreifendes, kritisches Denken oder Kommunikation. Junge Menschen sollen den Umgang mit Medien, Technologien, Informationen und Daten, aber auch mit Diversität lernen. Genaue oder verbindliche Vorgaben gibt es in den Lehrplänen allerdings nicht.

Sie dienen lediglich als Orientierungsrahmen dafür, über welches Wissen Schülerinnen und Schüler am Ende eines Schuljahres verfügen sollen. Eine der Grundkompetenzen – das Lesen – wird auch abseits der neuen Lehrpläne forciert: etwa durch den Einsatz von Lesebotschafterinnen und Lesebotschaftern oder ein Lesegütesiegel für Schulen mit innovativen Leseprojekten.

Doch wie beurteilen Expertinnen und Experten aus dem Bildungsbereich die neuen Lehrpläne? Welche Themen und Methoden vermissen die Fachleute in der Schule?

"Verstaubter Fächerkanon"

Kritik an dem, was Kinder und Jugendliche in der Schule lernen, – oder präziser: daran, was sie nicht oder zu wenig lernen – gibt es zuhauf. Besonders die politische Opposition zeigt sich auf Anfrage des STANDARD unzufrieden. Die FPÖ will die Lehrpläne "entrümpeln" und "auf das tatsächlich Wichtige" zurückführen. Was für die Freiheitlichen bedeutet: Es müsse "viel mehr Gewicht auf Lesen, Schreiben und Rechnen gelegt werden", sagt Bildungssprecher Hermann Brückl. "Unser Fächerkanon ist über 80 Jahre alt", kritisiert wiederum Neos-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre: "Die Fächerlogik ist nicht mehr zeitgemäß und muss an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst werden." Es brauche "endlich eine Debatte darüber, was unsere Kinder in der Schule lernen sollen", befindet sie.

Auch die SPÖ fordert, sich "vom klassischen Fächerkanon zu verabschieden". Moderner Unterricht orientiere sich an "lebensnahen Themenfeldern, um den Umgang mit komplexen Fragestellungen, der Organisation der Wissensbeschaffung und der Bewertung von Inhalten zu trainieren", sagt SPÖ-Bildungssprecherin Petra Tanzler. An den Schulen brauche es Lehrpläne, die "an aktuelle Herausforderungen" angepasst seien.

"Fast alles drin"

Gänzlich anders sieht das naturgemäß die regierende Koalition aus ÖVP und Grünen. ÖVP-Bildungssprecher Rudolf Taschner sagt: "Lehrpläne sollen allein jene Lerninhalte und Lernziele beinhalten, die jedenfalls gelehrt, geübt und überprüft werden – unabhängig von den Eignungen und Neigungen der Kinder und Jugendlichen sowie unabhängig von den Profilen der Schulen." In den neuen Lehrplänen stehe "eigentlich fast alles drin, was man sich an Zukunftsthemen wünschen kann", fasst die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann zusammen. Die Frage sei jedoch, "wie viel von diesen Themen derzeit schon im konkreten Unterricht ankommt". Das nämlich, sagt Hamann, hänge von den einzelnen Lehrkräften ab.

Neue Technologien nutzen: Digitalisierung und KI

Mit dem neuen Schuljahr voll angekommen ist das Fach "Digitale Grundbildung". Bisher wurde der Pflichtgegenstand nur in den ersten drei Klassen der AHS-Unterstufe und der Mittelschule unterrichtet. Ab September kommen nun auch die jeweils vierten Klassen dazu. Seit Ende des Vorjahres sorgt auch ChatGPT im Bildungsbereich für Diskussionen. Manche fürchten, dass die künstliche Intelligenz (KI) dazu einlädt, Hausaufgaben nicht mehr selbst zu machen. Andere sehen die Chance, dass sich die Art, wie Wissen vermittelt, angewandt und überprüft wird, ändert und neue Lerntechniken entstehen.

In anderen Ländern haben einzelne Schulen das KI-Tool bereits verbieten lassen, in Österreich soll das nicht passieren. Es sei die Aufgabe der Schule, solche Technologien auch zum Unterrichtsinhalt zu machen, heißt es aus dem Ministerium. Der Bildungswissenschafter Christian Kraler von der Universität Innsbruck sagt, früher hätte man sich vor Wikipedia gefürchtet, heute vor KI. Es ändere sich "nur der jeweilige technologische Zugang". Rückblickend zeige sich, dass "es immer Entwicklungen gab, auf die reagiert wird".

Kraler vergleicht die Schule mit einem schwer beweglichen, langsam fahrenden Tanker – meint das aber nicht negativ: Schulische Bildung bewahre und tradiere Wissen, Normen und Werte. Er plädiert für eine stete Weiterentwicklung, aber: Nur etwas Neues einzuführen reiche nicht aus. Schließlich müssten in weiterer Folge auch Schulbücher neu geschrieben oder Lehrkräfte entsprechend ausgebildet werden.

Die Schule entwickle sich also weiter, aber "immer etwas zeitverzögert". Fächer seien historisch gewachsen. Nicht immer brauche es neue Fächer. Neue Inhalte ließen sich auch innerhalb des bestehenden Systems einführen: Die Informatik oder die Mathematik hätten sich etwa im Laufe der Zeit mehrmals verändert. Kraler sagt, er würde sich "mehr Dialog zwischen den Fächern" bei der Erstellung der Lehrpläne wünschen – um beispielsweise Mehrsprachigkeiten besser zu nutzen oder um Medienunterricht mehr zu forcieren.

Medienpädagoge Christian Swertz von der Universität Wien sagt, "im Prinzip" sei zwar alles drin im Lehrplan. Nur: Nehme man etwa das Fach Digitale Grundbildung her, dann fehle nahezu alles abseits der Informatik. Der Lehrplan für Lehramtsstudierende bestehe zu 90 Prozent aus Informatik. "Da entgehen ihnen alle anderen wesentlichen Themen", sagt Swertz. Schülerinnen und Schüler würden unter anderem nicht genügend über das heimische Mediensystem erfahren. In Finnland hingegen werde Medienkompetenz seit 1970 systematisch unterrichtet. Das sei in Österreich zwar theoretisch prinzipiell auch so angelegt, werde aber nicht umgesetzt. Auch werde nicht beigebracht, wie soziale oder kommerzielle Medien funktionieren: Wer diese Strukturen vor Augen habe, könne sie aber auch einordnen – und etwa die Logik von Algorithmen nachvollziehen.

Den Umgang mit Geld lernen: Finanz- und Wirtschaftsbildung

Keinen Schimmer von finanzieller Vorsorge, Inflation, Gründungsmöglichkeiten, Steuern, Zinsen: Für viele Maturantinnen und Maturanten ist das Realität. Und ein Problem, wie häufig beklagt wird. Die Neos fordern schon lange die stärkere Integration von Wirtschafts- und Finanzbildung im Unterricht – praxisnah vermittelt. Die scheidende Bundesschulsprecherin Flora Schmudermayer hielt in einer Pressekonferenz Ende August fest: Sie fühle sich durchaus von der Politik gehört. Es mangle aber "an Umsetzung in der Praxis". Als konkrete Fortschritte nannte Schmudermayer, die Mitglied der ÖVP-nahen Schülerunion ist: "Unsere langjährigen Forderungen nach mehr politischer Bildung und Finanzbildung sind hier auf Nährboden getroffen."

Die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) wünscht sich, dass mit Hinblick auf das spätere Berufsleben "mehr Wirtschaftskompetenz vermittelt wird", wie sie in einer Aussendung mitteilt.

Aktuelle Themen behandeln: Umwelt und Gesellschaft

In den Klassen sollen weitere Themen unserer Zeit Niederschlag finden: Klimaschutz, Verkehrs- und Mobilitätsbildung, Gesundheitsförderung, Vielfalt der Kulturen oder Menschenrechte beispielsweise. Christoph Helm, Leiter der School of Education an der Johannes-Kepler-Universtität in Linz, sagt, es sei wichtig, dass das Schulsystem auf gesellschaftliche Herausforderungen mit neuen Lehrplänen reagiere. Es sei "große Arbeit geleistet worden", weil die angestrebten Ziele ausformuliert seien und die überfachlichen Kompetenzen mehr Gewicht erhalten sollen. Er sieht aber auch "eine vertane Chance, den überfrachteten Lehrplan zu entmisten". Die "Future Skills" zum Beispiel seien den Inhalten der alten Lehrpläne hinzuaddiert worden, ohne Streichungen vorzunehmen.

"Die Reform hätte die Chance geboten, Platz für die Behandlung tagesaktueller Themen wie etwa Krieg zu schaffen." So aber müsse man weiter "von Thema zu Thema" hetzen. Gerade die überfachlichen Kompetenzen drohten damit auf der Strecke zu bleiben. Überfachliche Themen seien als Querschnittsaufgabe definiert, wodurch die Gefahr bestehe, dass "sich am Ende keine Fachlehrperson dafür verantwortlich fühlt". Und: Die bestehende Fächerstruktur stehe der Idee des interdisziplinären, problem- und projektorientierten Lernens, "das sich an epochaltypischen Schlüsselproblemen der Gesellschaft orientiert", diametral entgegen. (Anna Giulia Fink, Oona Kroisleitner, 11.9.2023)