Naïma Mazic
Naïma Mazic, aufgewachsen im legendären Wiener Jazzclub Porgy & Bess, lässt im Brut-Theater "Album, the muse at work" tanzen.
Tamara Yael Kanfer

Eine Gesellschaft ist eine Akkumulation aus Gemeinschaften, die den Künsten eine unversiegbare Quelle von Stoffen und Themen bietet. Diese zapft das Brut-Theater jetzt am Beginn seiner neuen Spielzeit an und lässt sie ungehemmt sprudeln.

Das Brut interessiert sich ganz besonders für das Gemeinschaftsbildende auf der Bühne. Wer hätte gedacht, dass da ausgerechnet Schleim ins Spiel kommen kann? Gleich zum Auftakt der Saison zeigt Doris Uhlich, wie das geht. Ganz schleimfrei lässt Naïma Mazic später ihre Musen im kollektiven Gedächtnis des Jazz tanzen. Und die serienkünstlerische Fernsehplattform Irreality.tv verwandelt zusammen mit ihrem Publikum eine Tischtennisplatte in einen Split-Screen-Film.

Was daran neu ist, wenn doch Kunst und Gesellschaft eh schon lange zusammengehören? Ja, tun sie, aber heute wachsen Kunstschaffende und ihre Auditorien in liberal­demokratischen Ländern viel unmittelbarer zusammen als noch vor zwanzig Jahren. Es ist ein definitiv inklusives Experiment, von dem viele sich positive Einwirkungen auf die gestressten Bevölkerungen erhoffen.

Fluide Utopie im Schleim

Doris Uhlich beispielsweise, eine der prononciertesten österreichischen Choreografinnen, bringt mit Gootopia – The Treatment bereits den dritten einschlägigen Test auf die Bühne. Begonnen hat sie dieses Spiel mit der Ambivalenz schon 2021 mit der Gruppenperformance Gootopia, 2022 folgte im Museum für angewandte Kunst die Intervention Goo Goo MAK, und in demselben Jahr wurde Gootopia – The Treatment uraufgeführt.

Ohne Schleim kein Leben. "Kinder lieben Schleim", verkündet die Website Ökotest.de. Babyboomer erinnern sich: Was haben wir geslimed! Der Spielschleim hieß "Slime" und war grün. Etwas anders getönt allerdings als ein oft ebenfalls grüner Spuckschleim. Der Ekel davor hat Gründe, denn solch ein Auswurf enthält Krankheitserreger.

Dem Körper nützt sein Schleim so sehr, dass wir uns eher als Schleim- denn als Schaumgeborene fühlen dürfen. Genau da setzt Doris Uhlich an. "Schleim ist ein uns ursprünglich vertrauter Stoff", sagt sie, "der den Organismus zusammenhält und Verbindungen herstellt." Und zu ihrer Performance Gootopia: "Die Körpergrenzen werden fluide, und Assoziationsräume für andere, schleimige, utopische Lebensformen werden eröffnet." Diesen utopischen Formen nähern sich die Performerinnen und Akteure der jetzt vom Brut erstmals in Österreich präsentierten Performance Gootopia – The Treatment noch unmittelbarer an.

Doris Uhlich
An und in der Quelle des guten Schleims bei Doris Uhlichs "Gootopia – The Treatment" sitzt (unten) Pêdra Costa.
Juliette Collas

Homo ludens

Alle Anwesenden kommen mit Uhlichs (ungefährlichem) Kunstschleim, wie man ihn zu Hause auch selbst aus Speisestärke und heißem Wasser anrühren könnte, in Kontakt. So wird allzu verallgemeinernder Zivilisationsekel abgebaut und in ein sinnliches Spiel kultureller Reflexionen verwandelt. Stets "gespielt" wird Musik, dasselbe gilt fürs Theater. Und der Tanz stellt laut dem berühmten Kulturhistoriker Johan Huizinga (Homo ludens) "eine besonders vollkommene Form des Spielens" dar.

Naïma Mazic hat auch bei Doris Uhlich getanzt. Ihre Kindheit verbrachte die Wienerin vor allem im Jazzclub Porgy & Bess, den ihre Eltern vor 30 Jahren mitgründeten. Bis heute arbeitet Mazic dort mit. Sie leitet die internationalen Angelegenheiten und koordiniert ein European Jazz Network. Aber vor allem baut sie ihre eigene Choreografinnenkarriere auf.

Tischtennis-Soap von der Straße

Mazic absolvierte ein internationales Studium zwischen Amsterdam, New York, Brüssel und Wien, gründete danach ihre eigene Company und befasst sich heute eingehend mit der Weiblichkeit von Jazzmusik. Im Zieglergassen-Studio des Brut präsentiert sie Mitte Oktober zusammen mit der Musikerin Evi Filippou die Uraufführung ihres jüngsten Stücks: Album, the muse at work.

Auch Tischtennis wird durch Spielen umgesetzt. Diesmal von Irreality.tv in der Galapremiere des Films und einer neuen Serie, Ping Pong Split Screen. Gedreht wurde vergangenen Mai und Juni im Wiener Stadtraum mit Otmar Wagner plus zahlreichen Mitspielenden wie du und ich. Eine runde Tischtennisplatte bildet das Zentrum des Geschehens.

Der Plot wurde mit den Teilnehmenden gemeinsam gebastelt. Schon aus diesem Grund wird eine Soap der Extraklasse versprochen.

Gerechtigkeit bei "Justitia! Il*Legal Monsters" von Gin Müller

Wien – Teil eins des von Gin Müllers auf vier Jahre angelegten Rechercheprojekts "Justitia!" wurde vergangenen November im Brut-Theater vorgestellt. Jetzt kommt die Uraufführung der nächsten Episode heraus: Justitia! Il*Legal Monsters.

In einer raffinierten Kombination performativer Formate geht es um Grenzüberschreitung und Justiz, die Rechte von Geflüchteten, zugleich gegen Bürokratie und die Illegalisierung von Menschen. Fluchthelfende werden hier als schlaue Monster und mutige Trickster präsentiert. Dazu gibt es etliche Begleitveranstaltungen. Am 6. 10., ab 14 Uhr etwa den Workshop "Der Kriminalisierung der Migration entgegentreten".

Am 7. 10. ab 14 Uhr gibt’s die Workshops "Found in Interpretation" und "Fluchtgeschichten performen" sowie nach der Premiere von Justitia! Il*Legal Monsters ein DJ-Set mit DJ Noushin. Am 8. 10. findet ab 17 Uhr ein Roundtable zu "Borderpolitics, Mi­grationpolicies und No border activism" statt, und am 10. 10. kann man nach der Vorstellung einem Artist-Talk lauschen.

Gina Müller
"Illegale Monster" bei Gin Müllers Ausleuchtung der Justiz.
Magdalena Fischer

Das Brut als Teil der Choreographic Platform Austria

Wien – An der Präsentation der ersten österreichischen Tanzplattform seit elf Jahren beteiligt sich neben dem Tanzquartier Wien und dem Festspielhaus St. Pölten auch das Brut-Theater. Im Brut Nordwest sind Karin Pauers We Were Never One (19. 10., 13.30 + 21. 10., 14.00), Béton Brut der Hungry Sharks (19. 10., 15.30) sowie Veza Fernández’ Alalazo (ab 21. 10., 16.00) zu sehen.

Bei Karin Pauer tanzen zwei Frauen und zwei Männer in einer radikal reduzierten Umwelt: sechs Skulpturen aus Stoffballen, die sich als weiche Decken entpuppen. Zu Paolo Montis Soundgeweben tanzt das Quartett die Verbundenheit jeder Einzelnen mit ihrer Umgebung. Die Company Hungry Sharks führt das Breaking und den Brutalismus zusammen. Aus der Untersuchung von Baukörpern und Monumenten des Brutalismus – der Wiener Wotrubakirche und Denkmalskulpturen aus Ex-Jugoslawien – wurden verschiedene Motive des Breaktanzens zu Manuel Rieglers Musik generiert.

Und Veza Fernández stellt ein Solo vor, das nach der Personifikation des altgriechischen Kriegsgeheuls "Alala" benannt ist. Alala war die Tochter des Polemos, einer Verkörperung des Krieges. Für ihr Stimmsolo Alalazo hispanisiert die Choreografin das klassische Alala, und im Stücktitel lässt sie es mit seiner Nebenbedeutung "jubeln" kollidieren. Die elektrisierende Musik dazu liefert Rana "Fauna" Farahani. (Helmut Ploebst, 22.9.2023)