Ein hübsches Etikett verkauft Wein. Ein ansprechendes Cover Bücher. Und ein guter Titel Klimaschutzprojekte. "Überlegen wir uns einen wunderschönen Namen. Der ist der Jury am wichtigsten", sagt ein Mann mit blondem Haar – halb ernst, halb scherzend – in die Runde. Er sitzt mit zwölf Männern und Frauen an einem Tisch im Festsaal des Mariahilfer Amtshauses in der Amerlingstraße. Vor ihnen liegen bunte Kärtchen, Kugelschreiber, Karten und Google-Streetview-Ausdrucke, die die Straßen des sechsten Wiener Bezirks zeigen.

Die Zeit drängt beim Klimaschutz – und im Mariahilfer Amtshaus.
MA 20/Christian Fürthner

Drei solche Tische stehen an diesem Mittwochabend im Festsaal – und noch einmal so viele in einem weiteren Raum im Erdgeschoß. Die Menschen, die dort Platz genommen haben, sind Teil eines großen Experiments. Eines Experiments, bei dem es um viel Geld geht. Und um eine wesentliche – wenn nicht sogar die wesentlichste – Frage der Gesellschaft: Wie können Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft gemeinsam handeln, um die Klimakrise aufzuhalten oder zumindest abzumildern?

Disziplin statt Philosophie

"Ahoi Matrosengasse." Klingt gut, sind sich die zwölf Männer und Frauen einig. Das Verkehrsberuhigungsprojekt, das so getauft wurde, ist seiner Umsetzung damit einen kleinen Schritt näher. Die Idee dafür stammt von Anna-Lisa: kinnlanges dunkles Haar, Harry-Potter-Brille, Anrainerin der Matrosengasse. Sie wünscht sich dort breitere Gehsteige, mehr Grün, weniger Parkplätze und eine Reduktion des Tempolimits für Autos.

In drei Runden à 45 Minuten werden 50 Ideen diskutiert.
MA 20/Christian Fürthner

Vorschläge wie diese konnten die Mariahilferinnen und Mariahilfer im Frühling bei der Stadt einbringen. Im Rahmen des Pilotprojekts Wiener Klimateam sammelte sie heuer bereits zum zweiten Mal Ideen für Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsmaßnahmen aus der Bevölkerung, die auch tatsächlich umgesetzt werden. Im Vorjahr wurden 19 Vorschläge ausgewählt, drei sind bis dato realisiert bzw. in Umsetzung. "Wir machen nicht bei der Suche nach Ideen oder der Auszeichnung der besten Idee halt. Wir wollen die Ideen gemeinsam zur Umsetzung bringen", sagt Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ). Pro Bezirksbewohnerin und Bezirksbewohner stellt die Stadt dafür 20 Euro bereit, für Mariahilf macht das ein Budget von 633.000 Euro für Klimaprojekte.

Jury wählt im November

Im sechsten Bezirk kamen rund 300 Vorschläge zusammen. Um die 50 davon entsprachen den Einreichkriterien, wurden von den zuständigen Dienststellen im Magistrat als bewältigbar eingestuft und mit inhaltlichem Feedback versehen. Anhand der Rückmeldungen sollen sie nun an den Tischen konkretisiert werden. Aus den verfeinerten Vorschlägen wählt im November eine Jury bestehend aus Bürgerinnen und Bürgern jene Projekte aus, die umgesetzt werden.

Das Zeitkorsett ist straff: Drei Runden à 45 Minuten sind pro Tisch an diesem Abend vorgesehen. Das soll dazu motivieren, lösungsorientiert zu arbeiten, anstatt philosophische Grundsatzdiskussionen zu führen. An Anna-Lisas Tisch funktioniert das – meistens: Eigentlich müsste ganz Mariahilf eine Begegnungszone sein, findet ein Herr in hellblauem Hemd. Und schon wird darüber gefachsimpelt, welche Gestaltungsmaßnahmen es braucht, damit diese Form der Verkehrsorganisation gut funktioniert. Der blonde Mann – er ist der Moderator an diesem Tisch und notiert alle Konkretisierungen zu Anna-Lisas Idee – mahnt zu Disziplin: "MA 28 bitte!"

Die Expertise der für Straßenbau zuständigen Magistratsabteilung wird gebraucht, um den genauen Bereich in der und rund um die Matrosengasse einzugrenzen, der verkehrsberuhigt werden soll. Jeder Quadratmeter, der umgestaltet werde, koste, gibt der herbeigerufene Beamte aus der MA 28 der Gruppe mit.

Auch aus anderen Magistratsabteilungen sind Kolleginnen und Kollegen da, um Denkanstöße zu geben und Fragen, die an den Tischen auftauchen, zu beantworten. Das klappt – zum Teil. Ob die Einfahrt vom Gürtel in die Matrosengasse gesperrt werden kann? Die Vertreterin der für Verkehrsorganisation zuständigen MA 46 ist überfragt: "Das kann ich jetzt nicht aus dem Ärmel schütteln."

Alltagswissen ist gefragt

Der Abend zeigt: Gemeinsames Handeln ist anstrengend. Mitdenken, anderen zuhören, die Geräuschkulisse im Raum – all das fordert die Männer und Frauen an den Tischen. Besonders beim Klimaschutz ist diese Anstrengung aus Sicht von Daniel Oppold vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit am Helmholtz-Zentrum im deutschen Potsdam nötig. "Klimaschutz ist am Ende des Tages eine sehr individuelle und sehr lokale Frage. Da braucht es das Alltags- und Erfahrungswissen der Bürgerinnen und Bürger, um gute Entscheidungen zu treffen", sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter zum STANDARD.

Teilhabe sei besonders bei vielschichtigen Problemen wie dem Klimawandel essenziell.
MA 20/Christian Fürthner

Teilhabe sei besonders bei vielschichtigen Problemen wie dem Klimawandel essenziell. "Beteiligung kann die Eigenmotivation der Bevölkerung erhöhen. Bei komplexen Herausforderungen hat man oft die Situation, dass man in freiheitlichen Gesellschaften nicht von oben herab Lösungen verordnen kann."

Entscheidend für den Erfolg von Partizipation sei Prozesstransparenz. Gemeint ist damit etwa, die Auswahlkriterien dafür, welche Projekte in einem Beteiligungsprozess zum Zug kommen, klar zu kommunizieren. Ebenfalls wichtig: passgenaue Formate. "Jede Kommune hat ihre eigene Vorgeschichte mit Partizipation, einen eigenen Beteiligungsbedarf und eine eigene Gemeinschaft", sagt Oppold. Etwa einen Bürgerrat einzuführen, bloß weil der Nachbarbürgermeister auch einen etabliert habe, ergebe wenig Sinn. Wien hat sich für das Projekt Klimateam vom Pariser "Budget Participatif", einem Mitmachbudget, inspirieren lassen. Die Pariser Version hat im Unterschied zu Wien keine thematische Einschränkung, ansonsten funktionieren die Initiativen recht ähnlich.

Die Ideen werden zusammengefasst. Anna-Lisas Tisch hat eine Minimal- und eine Maximalvariante ausgearbeitet.
MA 20/Christian Fürthner

Die Gruppe an Anna-Lisas Tisch hat noch zwei Minuten – und eine Lösung: Eine Minimal- und eine Maximalvariante für die Umgestaltung der Matrosengasse wurde gefunden. Im Dezember wird bekanntgegeben, ob eine davon umgesetzt wird. Was, wenn nicht? "Ich werde nicht persönlich beleidigt sein", sagt Anna-Lisa. Sie grinst: "Dann müsste ich halt unserem Bezirksvorsteher Markus Rumelhart damit auf die Nerven gehen." (Stefanie Rachbauer, 3.10.2023)