Die militärische Antwort Israels auf den Angriff der Hamas wird eine "äußerst komplizierte und komplexe" Operation sein – das sagte am Dienstag Guido Kraus, Nahostexperte und Oberst des Generalstabsdienstes im österreichischen Bundesheer, im STANDARD-Podcast "Thema des Tages". Es handle sich um eine mehrdimensionale Angelegenheit, bei der es nicht nur um die Bekämpfung von Hamas-Terroristen und deren Strukturen inmitten dichtverbauten Wohngebiets im Gazastreifen gehen werde, sondern auch um die Befreiung zahlreicher israelischer Geiseln – bei gleichzeitiger Schonung der palästinensischen Zivilbevölkerung dort.

Oberst Guido Kraus
Oberst Guido Kraus analysiert für den STANDARD die Lage in Israel.
Österreichisches Bundesheer

Kraus rechnet mit einer in mehreren Stufen gestalteten Bodenoffensive. "Die erste Phase findet jetzt gerade statt. Das ist der Aufmarsch, das ist die Bereitstellung", erklärte Kraus. "Die nächste Phase wird sein, den ersten Verteidigungsring der Terrorgruppen an den Rändern einzunehmen" – basierend auf Erkenntnissen militärischer Aufklärungsarbeit.

Phasen- bzw. schichtweise – Kraus spricht wörtlich von einem "zwiebelartigen Vorgehen" – würden die Operationen immer mehr zum Kern vordringen. Es gelte, "eine Zelle nach der anderen zu bekämpfen und deren Operationsbasis zu zerstören. Das ist ein mühsames Durchfressen, Durcharbeiten durch viele Schichten in einem sehr, sehr komplexen militärischen Umfeld", schildert der Nahostexperte das mögliche Szenario. "Das alles wird dementsprechend lange dauern, und Kollateralschäden sind leider zu erwarten."

"Gesamtstaatliche Aufgabe"

Was die Geiseln betrifft, so sei es möglich und wahrscheinlich, dass zu einem gewissen Zeitpunkt Verhandlungen aufgenommen werden könnten. "Diese werden aber zusätzlich, parallel zu allen militärischen Aktivitäten und Operationen stattfinden."

Doch nicht nur das Militär sei gefordert, analysiert Kraus, der von einer "gesamtstaatlichen Aufgabe" spricht. Es werde nicht nur den Kriegsschauplatz Gaza geben: Die Gefahr in Israel selbst könne weiter bestehen, daher sei die massive Einberufung von 300.000 Reservisten und Reservistinnen absolut nachvollziehbar. "Die israelische Gesellschaft versteht es, dass es in Zeiten der Krise und des Kriegs notwendig ist, dass alle zusammenhalten und hier die Krise bewältigen. (…) Man bereitet sich auf das Schlimmste vor, weil man weiß, dass es um Israel herum genug militärisches Potenzial gibt, das Israel in seiner Existenz tatsächlich bedrohen kann."

Die Angriffe der Hamas hätten – so bewertet es Kraus – "Israel tief ins Herz getroffen": "So viele Zivilisten getötet, massakriert, misshandelt – das hat es schon sehr lange in der Geschichte Israels nicht mehr gegeben. Und das weiß jede Frau, jeder Mann in Israel. Und daher wird auch die Reaktion der israelischen Gesellschaft eine nachhaltige und massive sein."

Auf die Frage, wie es überhaupt zur konzertierten Angriffswelle der Hamas auf Israel kommen konnte, was da schiefgelaufen sei, sagt Kraus, dass die aktuelle Eskalation fast ohne Vorwarnzeit entstand sei – anders als früher in vergleichbar angespannten Lagen. Eine solche Lageentwicklung "hat es in dieser Art und Weise in dem Konflikt zwischen der Hamas und Israel noch nie gegeben". Es dürfte sehr wohl geheimdienstliche Erkenntnisse und Informationen gegeben haben; "diese wurden aber vermutlich nicht so dramatisch bewertet, wie es die Realität dann bewiesen hat." Also doch eine Geheimdienstpanne?

Geheimdienstpanne?

Dieses Mal scheinen die Planungen tatsächlich nur in einem "sehr, sehr kleinen Kreis in der Hamas, vermutlich auch in der Gruppe 'Islamischer Jihad in Palästina', stattgefunden zu haben", vermutet Kraus. Dies habe in der Folge dazu geführt, "dass man die die Dringlichkeit und die Eskalationsstufe, mit der die Hamas und andere Terrorzellen aus dem Gazastreifen zuschlagen würden, nicht richtig eingeschätzt hat".

Kraus zeigt sich skeptisch, was den Sieg über die Hamas bzw. allgemeiner: den Terrorismus mit rein militärischen Mitteln betrifft. Es gehe realistischerweise eher darum, "die Bedrohung durch die Terrorzellen so weit wie möglich zu minimieren. (…) Terror komplett durch eine militärische Operation zu vernichten oder auszulöschen – das ist de facto nicht möglich."

Ebenso wenig sei es realistisch, den gesamten Gazastreifen einzunehmen und dort eine völlig neue Ordnung zu installieren – das habe schon im Libanon nicht funktioniert. Daher hatte sich Israel schon vor langem dazu entschlossen, den Gazastreifen – und damit die Hamas – zu isolieren.

Welche Rolle spielen die USA?

Explizit geht Oberst Kraus auf die Rolle der USA in dieser Situation ein: Das Engagement und die Präsenz der US-Streitkräfte in der Region sollten dazu beitragen, "einen Flächenbrand zu verhindern". Die israelische Armee sei stark genug, um mit der Hamas allein fertig zu werden, "es geht hier um Abschreckung in der Region. Es geht darum, ganz klar ein Signal der Entschlossenheit der amerikanisch-israelischen Beziehungen zu demonstrieren."

Werden die USA also nur Präsenz zeigen? "Ich gehe nicht davon aus, dass die amerikanischen Streitkräfte aktiv in den Gazakrieg eingreifen werden", sagt Kraus, der aber relativiert: "Im Falle einer Eskalation, eines beginnenden Flächenbrands in der Region, müssten die Streitkräfte geradezu eingreifen, um Schlimmeres zu verhindern." Auf die Frage, ob sich die Welt – vor allem der Westen – nun auf vermehrte Terroraktionen werde einstellen müssen, sagte der Nahostexperte: "Ich fürchte ja. (…) Es könnte sehr leicht zu einem neuerlichen Aufflammen des transnationalen Terrorismus kommen."

Und das könnte sogar auf den Kriegsschauplatz Ukraine Auswirkungen haben: "Damit werden wir uns dann wieder beschäftigen müssen; möglicherweise noch mit einer weiteren Verschärfung der Flüchtlingskrise und vielem mehr. Das bedeutet, dass wir strategische Ressourcen, die wir derzeit mit Schwergewicht Richtung Ukraine ausrichten, gegebenenfalls priorisieren müssen. Und es bedeutet, dass für die Ukraine gegebenenfalls nicht mehr vollumfänglich Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können – weil diese dann aufgeteilt werden müssen." (Tobias Holub, Zsolt Wilhelm, Gianluca Wallisch, 11.10.2023)