Marvel's Spider-Man 2
"Marvel's Spider-Man 2" macht vieles richtig, baut aber in erster Linie auf dem bekannten Fundament der Vorgänger auf.
Sony

Ich liebe Blockbuster-Gaming. "The Last of Us", "God of War", "Grand Theft Auto" oder "Battlefield" habe ich über viele Jahre als Gradmesser für die Entwicklung der Branche gesehen. Bombast-Optik, cineastisch inszenierte Storys und Daueraction, damit ich sehe, warum ich gerade wieder Geld in eine neue Konsole geballert habe. Pixeloptik hatte ich zu SNES-Zeiten genug, ebenso Dialoge, die ich selbst lesen muss, weil es keine Sprachausgabe gibt.

Aber mit dem Hype-Game der Woche, "Marvel's Spider-Man 2", und generell einem starken Blockbuster-Jahr fühle ich starke Ermüdungserscheinungen und wundere mich über die zahllosen Lobeshymnen für ein zugegeben stark inszeniertes Spiel, das aber praktisch nichts Neues versucht. Tatsächlich hat mich in diesem Jahr einzig "Baldur's Gate 3" so richtig begeistert. Alles andere fand ich "eh okay". Wie kommt das? Sind alle anderen verblendet, oder hat es zuletzt bestimmte einschneidende Erlebnisse gegeben, warum die Formel "Schuster, bleib bei deinem Leisten" bei mir nicht mehr zieht?

Spiele mit "Soul"

Ich habe die "Souls"-Formel lange Zeit nicht verstanden. Mir mit Anlauf aufs virtuelle Maul geben zu lassen und dafür die Entwickler noch zu feiern fand ich widersprüchlich und unpassend für mein zugegeben ohnehin vollgestopftes Privatleben. Ich wollte mich lieber als Superheld fühlen und den Gegnern Angst machen – nicht umgekehrt. Mit "Elden Ring" im Vorjahr habe ich jedoch eine neue Welt kennengelernt. Eine, die man entdecken muss. Eine, die Überraschungen bereithält, sowohl optisch als auch spielerisch. Natürlich hatte ich Momente, in denen ich vor lauter Frust den Controller in der Mitte durchbeißen musste, aber dank eines verständnisvollen Umfelds, das mir via Chat gut zugeredet und mich in diversen Bosskämpfen unterstützt hat, durfte ich ein Spiel bis zum Ende erleben. Diese Erfahrung kann ich trotz knapp 40 Jahren Videospielerfahrung mit nur wenig vergleichen.

Seit dieser Erfahrung habe ich meine Probleme mit Fortsetzungen à la "God of War: Ragnarök" oder "Marvel's Spider-Man 2", die ich früher einfach nahezu kritiklos verschlungen hätte – wie das derzeit teilweise bei Testerinnen und Testern der Fall ist. Heute fällt mir aber stark auf, wie inspirationslos Nebenquests inszeniert sind, wie monoton und automatisiert Kämpfe ablaufen können und wie eine Story, so toll sie auch inszeniert ist, keine 20 Stunden Spielzeit für mich trägt, weil sie wirkliche Emotionen vermissen lässt.

In diesem Jahr waren die Blockbuster eng aneinandergereiht. "Star Wars: Jedi Survivor", "Final Fantasy 16", "Zelda: Tears of the Kingdom" und viele mehr zogen den geneigten Spielerinnen und Spielern alle paar Wochen das Geld aus der Tasche. Bei den meisten handelte es sich um Fortsetzungen, und so hielt sich auch hier meine Begeisterung oftmals in Grenzen. Einzig "Baldur's Gate 3" überraschte mich mit liebevollen Dialogen und einem komplexen Kampfsystem. Und genau solche "Überraschungen" verlange ich mittlerweile von Spielen. Ich will Welten entdecken und nicht mit einem blinkenden Marker darauf aufmerksam gemacht werden. Viele nennen es die "Ubisoft-Formel", was so viel heißt wie eine Weltkarte voller Symbole, die auf Missionen oder generell Aufgaben hinweisen. Viele Spiele mussten sich diese einzig für Sammler interessante Formel auf die Brust nageln lassen, und meiner Meinung nach gehört auch "Spider-Man 2" in diese Kategorie. Nur, hier stört es offenbar weniger Leute, anders kann ich mir die hohen Wertungen nicht erklären. Okay, das Schwingen zwischen den Häuserschluchten macht wirklich Spaß, aber sonst wirkt das Gesamtwerk für mich wenig nach einer Welt, die wirklich entdeckt werden will – beziehungsweise die ich entdecken will.

Baldur's Gate 3
Allein schon die Möglichkeiten bei der Charakterwahl machen jedes Abenteuer in "Baldur's Gate 3" individuell, und auch sonst weiß das Spiel immer wieder zu überraschen.
Larian Studios/Screenshot

Satt, aber hungrig

Ich habe das Jahr 2023 an anderer Stelle schon einmal eines der besten Spielejahre aller Zeiten genannt. Tatsächlich gab es selten so viele 90er-Wertungen auf Metacritic zu erspähen wie in diesem Jahr. Dennoch fühlen sich die meisten Games wie solide Fortsetzungen bestehender Ideen an. Sogar ein "Diablo 4" konnte am Ende nicht vollends überzeugen und wurde durch die erste Saison sogar unattraktiver als zuvor. "Zelda" erweiterte ein nahezu perfektes Konzept mit Basteloptionen und mehreren Ebenen, "Hogwarts Legacy" profitierte viel von niedrigen Erwartungen und einem noch ruhigen Frühjahr. Man könnte die Liste ewig weiterführen, aber tatsächlich glaube ich nicht, dass in diesem Jahr viele Spiele erschienen sind, an die man sich in fünf Jahren noch erinnern muss. Außer man feiert auch Remakes, etwa das sehr gut gemachte "Resident Evil 4".

Es ist ohne Zweifel schwierig, ein gutes Spiel zu machen. Die Konkurrenz präsentiert sich täglich auf allen erdenklichen Plattformen, und negative Stimmungen gegenüber einem Titel erfreuen sich immer öfter eines Schneeballeffekts, der dann unkontrolliert via Social Media in die Welt getragen wird. Auch ich tendiere immer öfter dazu, die Schwächen statt der Stärken zu erkennen. Manchmal wünsche ich mir die unverbrauchten Augen eines jungen Videospielers, der Titel wie "Spider-Man 2" so richtig abfeiern kann, weil er noch nicht dutzende sehr ähnliche Spiele gesehen und erlebt hat.

Dennoch liebe ich das Hobby weiterhin. Jede Session von "Baldur's Gate 3" sehne ich herbei wie mein kleiner Sohn das nächste Schoko-Croissant, und tatsächlich freue ich mich auf meinen baldigst aufgebauten PC, der mir Tür und Tor zu von mir längst vergessenen Genres öffnen wird. Satt zu essen macht wenig Spaß. Vielleicht muss man sich für manche Genres und Inszenierungspraktiken einfach wieder ein wenig aushungern, um sie später wieder besser genießen zu können. Und wenn nicht: dann gilt es einfach, jene Spiele zu finden, die noch überraschen können und wollen. Ich freu mich drauf. Meine Steam-Wishlist ist in jedem Fall schon prall gefüllt. (Alexander Amon, 21.10.2023)