Die Kollegin meint es gut mit dem Besucher. "Das sieht doch schon ganz okay aus", sagt sie aufmunternd, als sie das Machwerk des zur Grobmotorik neigenden Laien betrachtet, der sich mit zitternden Fingern an einer ganz speziellen Technik versuchen darf, der Perlierung. Bei dieser in der Glashütter Uhrentradition typischen Oberflächenverzierung der Grundplatine, des Fundaments jedes mechanischen Uhrwerks, werden vorsichtig feine, sich überlappende Kreisschliffe aufgebracht.

Einer nach dem anderen, bis es mit etwas Fantasie so aussieht, als ob die gesamte Oberfläche von einem regelmäßigen Perlenmuster übersät wäre. Als Werkzeug dient ein rotierender Gummistift, der mit Diamantstaub versetzt ist und ähnlich wie eine Fräse arbeitet. Es ist eine Eigenentwicklung des Hauses.

Der Firmensitz von Glashütte Original in Glashütte. Unter einem Dach werden hier tausende filigrane Einzelteile hergestellt und montiert.
Der Firmensitz von Glashütte Original in Glashütte. Unter einem Dach werden hier tausende filigrane Einzelteile hergestellt und montiert.
Foto: Glashütte Original

Konzentriert hockt man also am Werktisch und versucht jene Tätigkeit nachzuahmen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Uhrenmanufaktur Glashütte Original nach monate-, wenn nicht jahrelanger Übung zur Perfektion gebracht haben. Kurz: Man kann nur scheitern. "Vielleicht ein bisschen weniger Druck ausüben. Und auf den Abstand achten", gibt die Kollegin zum Schluss noch ein paar praktische Tipps. Man würde sie gerne namentlich nennen. Doch leider muss diese stille Heldin der Haute Horlogerie anonym bleiben. Denn eifersüchtig wacht man in der kleinen Uhrenstadt, wo neben Glashütte Original so klingende Marken wie Nomos, A. Lange & Söhne oder Tutima zu Hause sind, über seine Facharbeiterinnen und -arbeiter.

Warum? Das wird klar, wenn man einen Blick aus dem Fenster wirft: "Zur Verstärkung unseres Teams suchen wir: Finisseure und Uhrmacher", prangt da ein Schriftzug auf einem überdimensionalen Banner. Angebracht ist es an der Fassade eines Konkurrenzunternehmens. Fachkräfte sind in der Branche im Allgemeinen und hier im Zentrum der deutschen Uhrenindustrie im Speziellen eine begehrte Ressource und werden offensichtlich gerne abgeworben. "Vielleicht solltest du dich drüben bewerben", wird gewitzelt. "Ja, dann könnten die in wenigen Monaten zusperren", entgegnet man lachend. "Auch eine Möglichkeit, einen Wettbewerber fertigzumachen."

Geschützte Gebietsangabe

Trotz gelegentlicher Animositäten, die es in dieser verschlafenen Kleinstadt in Sachsen, rund 25 Kilometer südlich von Dresden, geben mag, ist man stolz auf das, was man hier seit der Wiedervereinigung Deutschlands erreicht hat. Die Herkunftsbezeichnung Glashütte wurde zu einem Qualitätsmerkmal für tickende Preziosen, das international mindestens einen genauso guten Ruf genießt wie "Made in Germany".

Eine Platine mit perfektem Kreisschliff: gar nicht so leicht, wenn man es einmal selbst probiert.
Eine Platine mit perfektem Kreisschliff: gar nicht so leicht, wenn man es einmal selbst probiert.
Foto: Glashütte Original

Was die Uhrenbauer zusammenhält, ist nicht nur freundschaftliche Konkurrenz, sondern auch die "Glashütter Regel" – ein ungeschriebenes Gesetz. Es besagt, dass mehr als 50 Prozent der Wertschöpfung am Uhrwerk vor Ort ergehen muss, der Rest kann aus der Schweiz zugeliefert werden. Nur dann darf man sich den wertvollen Schriftzug "Glashütte" aufs Zifferblatt schreiben. Auch darüber wird genau gewacht. Jüngst kam die prestigeträchtige "Glashütte-Verordnung" hinzu, eine gesetzlich geschützte geografische Herkunftsbezeichnung, die nur Uhren aus Glashütte tragen dürfen. Sie ist nach "Solingen" für Messer aus Solingen seit 1938 erst die zweite geografische Ursprungsbezeichnung, deren Schutz in Deutschland in einer eigenen Verordnung festgelegt wird.

"Hier lebt die Zeit" steht auf einer Infotafel am Busbahnhof. Das klingt fast übertrieben selbstbewusst, kommt aber nicht von ungefähr. Vor über 175 Jahren brachte der sächsische Hofuhrmachermeister Ferdinand Adolph Lange (1815 bis 1875) seine Handwerkskunst in die Stadt im Müglitztal. Die Menschen waren arm, Arbeit im Silberbergbau gab es nicht mehr. Lange bildete die Bergarbeiter in der Uhrmacherei aus. Es war nach heutigen Maßstäben ein Strukturförderprogramm.

Schweizer Geld, deutsches Know-how

1878 wurde die Uhrmacherschule gegründet. In der ist heute das Deutsche Uhrenmuseum untergebracht. Die Exponate dort zeugen vom Einfallsreichtum der Uhrmacher, die sich Glashütter Spezialitäten ausdachten wie die Dreiviertel-Platine mit dem typischen Streifenschliff oder die Schwanenhals-Feinregulierung – Details, die bis heute Kennzeichen einer jeden Uhr sind, die in Glashütte gefertigt wird. Besonders stolz ist man auf Alfred Helwig, der 1920 das "Fliegende Tourbillon" entwickelte. Die Uhrmacher-Schule von Glashütte Original ist nach ihm benannt.

In der DDR wurden die Uhrenbetriebe zum VEB (Volkseigener Betrieb) Glashütter Uhrenbetrieb, kurz GUB, zusammengefasst. Mit der Wende begann ein Wiederaufstieg, mit dem man wohl nicht gerechnet hatte. Die Aussicht auf Profit und der gute Ruf der Uhrenstadt lockten die "Kapitalisten" an. Einer der Ersten war Günter Blümlein. Er trug maßgeblich zur Wiederauferstehung von Glashütte bei. Im Dezember gründete er die Lange Uhren GmbH zusammen mit Walter Lange – mit durchschlagendem Erfolg. Seit 2000 gehört die Marke A. Lange & Söhne zum Richemont-Konzern.

Luxus der Arbeit

Im selben Jahr übernahm die Swatch Group die ehemalige VEB GUB, die 1994 von den bayerischen Unternehmern Heinz W. Pfeiffer und Alfred Wallner gekauft und in Glashütte Original umbenannt worden war. Die beiden hatten es geschafft, die Firma von der billigen Massenproduktion in eine Nobelmanufaktur zu verwandeln. Ein Weg, den der Schweizer Uhrenriese seither weiter beschritten hat. Hier wurde ordentlich Geld in die Hand genommen. Nicht ohne Grund ziert ein Porträt des Swatch-Group-Gründers Nicolas G. Hayek den Empfangsbereich des Firmensitzes von Glashütte Original, der sich im Herzen des Ortes befindet.

Es steckt viel Handarbeit in einer Luxusuhr. So werden zum Beispiel die Kanten einzelner Bauteile manuell angliert. Viele der verwendeten Werkzeuge sind Eigenentwicklungen.
Es steckt viel Handarbeit in einer Luxusuhr. So werden zum Beispiel die Kanten einzelner Bauteile manuell angliert. Viele der verwendeten Werkzeuge sind Eigenentwicklungen.
Glashütte Original

Unter einem Dach werden hier tausende filigrane Einzelteile hergestellt und montiert, wie man bei der Führung durch das moderne Gebäude erfährt. Die Fertigungstiefe beträgt 95 Prozent. Soll heißen: Die Zeitmesser werden fast vollständig hausintern entworfen und gebaut. Auf vier Etagen, die sich über 10.000 Quadratmeter verteilen, sind die verschiedenen Ateliers, Werkstätten und Abteilungen der Fertigung und Endmontage über Korridore miteinander verbunden. Viele Arbeitsschritte werden noch per Hand ausgeführt.

Etwa die eingangs erwähnte Perlierung. Die ist zwar, wie andere Veredelungen, für die Funktion eines Zeitmessers nicht notwendig, aber so etwas wie State of the Art in der Haute Horlogerie. Die zahlungskräftige Kundschaft erwartet sich solche "Spielereien" bei Luxusuhren. Sie verleihen dem Produkt eine emotionale Tiefe ebenso wie das Wissen darum, dass ein Uhrmacher mehrere Stunden für die Montage und Regulierung eines relativ schlichten Werks braucht. Und bis zu 20 Tage, wenn es sich um ein kompliziertes Werk zum Beispiel mit Tourbillon handelt.

Die Senator Chronometer Tourbillon wartet mit einer technischen Weltneuheit auf: einem Flyback-Tourbillon.
Die Senator Chronometer Tourbillon wartet mit einer technischen Weltneuheit auf: einem Flyback-Tourbillon.
Foto: Glashütte Original

Am Schluss der detailreichen Führung wartet noch eine Überraschung auf die Gäste – in Form einer Weltneuheit. Spätestens jetzt merkt man, dass die Glashütter anders ticken als manche ihrer Schweizer Kollegen in ähnlicher Preislage. Der Fokus liegt auf der Technik, nicht auf der Show. Ohne großes Tamtam stellt man den Senator Chronometer Tourbillon vor. Ein, wenn man so will, weiterer Schritt in der Evolution des von Alfred Helwig erfundenen fliegenden Tourbillons.

Filigrane Arbeit erfordert Präzision: Die Konstrukteure bauen auf das Erbe von Alfred Helwig auf.
Filigrane Arbeit erfordert Präzision: Die Konstrukteure bauen auf das Erbe von Alfred Helwig auf.
Foto: Glashütte Original

Die Konstrukteure haben der aufwendigen wie begehrten Komplikation einen Twist verpasst, den man bisher zum Beispiel von Chronografen kannte – eine Flyback-Funktion. Ohne auf die Details einzugehen: Der Tourbillon-Käfig "fliegt", analog dem Sekundenzeiger des Chronografen, in einer geschmeidigen Bewegung aufwärts in die Nullstellung. Und verweilt dort, damit man die Uhrzeit präzise einstellen kann. Eine technische Meisterleistung, die es bisher noch nicht gab. (RONDO, Markus Böhm, 22.11.2023)