Skitour im Martelltal
Das Martelltal verspricht im Hochwinter vergleichsweise sehr einsame Skitourentage.
Foto: Thomas Neuhold

Im Winter geht es beschaulich zu im Martelltal. Das Seitental des Vinschgau mit kaum eintausend Einwohnern ist Teil des über drei italienisch Provinzen reichenden Nationalparks Stilfser Joch und nicht zuletzt deshalb von Liften, Gondeln und Skizirkus verschont geblieben. Kein Vergleich zum benachbarten Sulden, wo im Winter der sprichwörtliche Bär steppt. Eine stille Loipe durchmisst das hintere Martelltal, die Straße hier herauf zur Staumauer des Zufrittsee wurde erst in den 1980er-Jahre asphaltiert. Es gibt ein kleines Biathlonzentrum, und an einem Wochenende im Jahr geht hier die legendäre Marmotta-Trophy über die Bühne. Das dreitägige Skitourenrennen gehört zur Weltcupwertung.

Sommers wie winters gibt es einen bisschen sanfteren Tourismus, es dominieren kleinbäuerliche Landwirtschaft und natürlich Erdbeeren, Erdbeeren und nochmals Erdbeeren. Das Martelltal ist Erdbeerland! Die Anbauflächen reichen bis auf über 1500 Meter Seehöhe, entsprechend spät kann geerntet werden. Es gibt eine eigene Erdbeergenossenschaft, die sich um Produktion, Ernte und Vermarktung kümmert. In der jüngeren Vergangenheit macht der Erdbeerwirtschaft freilich die Klimakrise Sorgen: Selbst hier am Rande des Hochgebirges, am Rande der Ortlergruppe wird langsam das Wasser knapp.

"Nur ein paar Einheimische"

Apropos Ortlergruppe: Ortler, Monte Zebru, Königspitze, Monte Cevedale – die Paradegipfel der Ortlergruppe kennt so gut wie jeder Bergsteiger, so gut wie jede Bergsteigerin zumindest dem Namen nach. Und die Ambitionierteren unter ihnen werden wohl auch zumindest einmal im Leben auf dem Fastviertausender Ortler gestanden haben wollen; immerhin war das ja einst der höchste Berg Österreich-Ungarns. Die Gipfel in Richtung Martelltal sind schon weniger bekannt, auch wenn beispielsweise Eisseespitze, Madritschspitze oder Schöntaufspitze allesamt mächtige Dreitausender sind. Fallen dann Gipfelnamen wie etwa der Kalfanwand, dann zucken selbst Experten und Expertinnen meist nur noch ratlos mit den Achseln. Dabei ist der Berg immerhin 3061 Meter hoch.

Am Gipfel des Eisseespitz im Martelltal
Auf dem Gipfel des Eisseespitz (3230 m) mit Blick auf den Monte Cevedale (3769 m).
Foto: Thomas Neuhold

Diese weniger bekannten Gipfel sind es, die den Salzburger Günter Karnutsch regelmäßig ins Martelltal kommen lassen. Der ehemalige Präsident der Salzburger Bergführer reist gerne im Hochwinter hierher: "Am reizvollsten ist es für mich, wenn das Tal noch nicht aus dem Winterschlaf erwacht ist, also der Trubel der Hochtourensaison mit Hunderten von Tourengehern einsetzt", sagt Karnutsch. Besonders interessant seien dann die Touren im Abseits, die zum Glück, aber zu Unrecht, weniger stark und meist "nur von ein paar Einheimischen" frequentiert würden.

Und Karnutsch warnt gleich auch vor Leichtsinnigkeit: Allgemein seien die Touren im Jänner und Februar aufgrund der Neuschneemengen und des instabilen Wetters – nicht nur in "normalen" Wintern, sondern gerade auch bei geringer Schneelage und der daraus resultierenden erhöhten Lawinengefahr – wesentlich anspruchsvoller als im Frühjahr zur klassischen Hochtourensaison März bis Anfang Mai. "Erhöhtes Know-how in Tourenplanung und Lawinenkunde sind da absolute Grundvoraussetzung, garantieren dafür aber auch Skitouren abseits der Massen", sagt der Alterpräsident der Salzburger Bergführer, der selbst familiäre Wurzeln in Südtirol hat. Und noch eine Warnung hängt Karnutsch im STANDARD-Gespräch an: Wer sich Touren zum "Nachgehen" erwarte, werde im Martelltal schnell enttäuscht: "Die nur wenigen Spuren sind vom Wind schnell verweht oder mit frischem Neuschnee überdeckt, und gerade unter der Woche ist nahezu kaum jemand unterwegs."

Zufallhütte im Südtiroler Martelltal
Die Zufallhütte im Talschluss des Martelltal ist ein beliebter Treff- und Stützpunkt.
Foto: Thomas Neuhold

Stimmen freilich Wetter, Bedingungen, Kondition und alpinistisches Wissen, dann ist das Martelltal auch im Hochwinter ein ausgesprochen lohnendes Ziel für eine Skitourenwoche. Karnutsch hat recht: Man ist hier so gut wie immer fast alleine unterwegs. Dass zeitgleich mit unserem Lokalaugenschein im Februar 2023 auch die Marmotta-Trophy veranstaltet wurde, war fast schon eine willkommene Abwechslung. Wer geht schon einmal auf einer frisch ausgeflaggten Rennstrecke der Profis am Tag vor dem Rennen?

Keine Touren für Greenhorns

Ausgangspunkt vieler Touren ist ein großer Parkplatz nach einer Geländestufe hinter dem Zufrittsee auf rund 2000 Meter Seehöhe. Die Straße ist steil, bei Schneelage ist ein Allrad-Pkw von Vorteil. Eine schon reichlich desolate Hotelruine erinnert daran, dass es auch hier einst hochtrabende Tourismuspläne gab. Heute sind viele im Tal froh, dass dieser Kelch an Martell vorübergegangen ist.

Madritschjoch Übergang von Sulden ins Martelltal
Das Madritschjoch ist ein hochalpiner Übergang von Sulden ins Martelltal.
Foto: Thomas Neuhold

Die Tourenmöglichkeiten sind vielfältig, allesamt aber nicht zu unterschätzen. Folgt man dem Talverlauf, passiert man die Zufallhütte auf rund 2250 Meter Seehöhe. Sie leitet ihren Namen übrigens nicht vom zufälligen Zufall ab, sondern vom Wort "Fall", das sich auf die im Hüttenbereich ins Tal stürzenden Wasserfälle bezieht. Rund ein Dutzend Dreitausender sind von der Hütte aus "im Angebot". Wie gesagt, alles keine Anfängertouren.

Es muss freilich nicht immer ein rescher Dreitausender sein. Manches Tourenziel ist ebenso lohnend – etwa das Sonnentörl, das man aus dem westlich der Zufallhütte gelegenen Madritschtal erreicht. Das Madritschtal kann man auch als Variantenabfahrt erkunden: mit dem Taxi aus dem Martelltal hinüber nach Sulden und mit den Liften bis an die Schöntaufspitze (3325 m) heran. Diese kann man "mitnehmen" (Steigeisen in den Rucksack), und dann ins Madritschjoch (3123 m) hinüberqueren. Von hier geht es dann das Tal nach Westen hinunter bis zum Tourenparkplatz oberhalb des Stausees.

Slowfood im Waldheim

Wer ins Martelltal kommt, sollte genügend Zeit einplanen, um auf einen Sprung im Hotel-Restaurant Waldheim im Hintermartelltal einzukehren – wenn man nicht ohnehin gleich seine Zelte im Hotel selbst aufschlägt. Die Familie Mair – Seniorchef Hermann in der Küche und Sohn Alexander als Sommelier – haben hier ein kleines kulinarisches Paradies geschaffen. Die Küche funktioniert nach dem Slowfood-Prinzip, also höchste Qualität, regional und saisonal; zusätzlich will man nach dem Slowfood-Prinzip auch einen Beitrag zum Erhalt autochthoner Nutztierrassen und Pflanzenarten leisten.

Konkret bedeutet das hier, dass das Rindfleisch vom Laugenrind – eine bedrohte Grauviehart – aus kleinbäuerlichen Betrieben des Vinschgau stammt. Auch Lamm und Kitz stammen aus dem Tal, der Käse aus lokaler Produktion, und der Speck ist hausgeräuchert. Ein besonderes Highlight ist die traditionelle Saure Suppe; ein Teller dieser Kuttelsuppe mit einem Weißbier nach der Skitour, und allfällige Strapazen auf der Tour sind wie weggeblasen. (Thomas Neuhold, 30.11.2023)