Illustration Frau auf Laufband in Raum mit sehr gemütlicher Stimmung
Beim "Cozy Cardio" macht man ein sehr entspanntes Ausdauertraining, einen Spaziergang oder eine gemütliche Runde auf dem Fahrrad. Folgt man dem TikTok-Trend, ist auch die Atmosphäre ganz gemütlich – cozy eben.
Marie Jecel

Die Texanerin Hope Zuckerbrow bereitet sich auf Sport vor wie andere auf einen gemütlichen Videoabend: Sie dimmt das Licht, zündet Kerzen an und wirft erst ihre aktuelle Lieblingsserie, dann das Laufband an. Und während sie um fünf Uhr morgens im Pyjama und in Schlapfen im Wohnzimmer dahinspaziert, nippt sie an ihrem Protein-Coffee, der natürlich texanische Dimensionen hat. "Cozy Cardio" nennt die Tiktokerin ihr Workout, das vor einem Jahr viral ging. Hunderttausende Menschen haben seither ihre Videos geschaut. Zuckerbrow hat einen Trend losgetreten – und nebenbei auch noch eine Grundannahme von Sport infrage gestellt: Muss das wirklich alles so anstrengend sein?

Nein, sagt der Sportwissenschafter Michael Koller von der Sportordination in Wien: "Man muss sich nicht bei jedem Workout quälen", sagt er. Ganz im Gegenteil: Gerade die lockeren, gemütlichen Einheiten sind wichtig, um eine Grundlagenausdauer aufzubauen – und das ist der wichtigste Baustein für die körperliche Fitness. Daher findet Koller niedrigintensive Einheiten, die manche nun eben "Cozy Cardio" nennen, gut: "Der Körper wird mit Sauerstoff durchflutet, wir regen die Herzfrequenz ein wenig an, die Arm-Bein-Koordination wird trainiert." Noch einmal besser wäre das Workout seiner Ansicht nach allerdings, wenn man es im Freien durchführt, weil die Nähe zur Natur gut für die Psyche ist. Allerdings fehlt da der Netflix-Zugang.

20 Minuten reichen

Eine 20- bis 30-minütige Bewegung – etwa das Gehen oder das Treten am Hometrainer ohne Widerstand – wirkt außerdem beruhigend, weil der Parasympathikus, der Ruhenerv, stimuliert wird. Die Folge: Atmung und Herzschlag verlangsamen sich, der Körper entspannt sich. In der Sportordination werden solche Einheiten besonders Menschen, die mit einem Burnout kämpfen, an Spätfolgen von Corona leiden oder nicht sehr fit sind, empfohlen.

Zwei Kilometer geht Hope Zuckerbrow in ihrem abgedunkelten Wohnzimmer, während sie auf Netflix die Kardashians schaut. Das ist ein gutes 'Regenerations-Workout. Noch deutlich besser wäre es allerdings, wenn sie die Strecke in der Natur marschieren würde.

Zwei Kilometer geht Hope Zuckerbrow in ihrem abgedunkelten Wohnzimmer, während sie auf Netflix die Kardashians schaut. Das ist nicht nichts für Menschen, die ansonsten den ganzen Tag im Büro sitzen. Für fitte Menschen fehlt beim "Cozy Cardio" allerdings der Trainingsreiz für das Herz-Kreislauf-System und die Muskulatur, sagt Koller. Wer sich tatsächlich verbessern will, muss Trainingsumfang oder Intensität erhöhen. Eine Ergänzung könnte beispielsweise ein High Intensity Interval Training (HIIT) sein, also ein recht kurzes, aber dafür anstrengendes Training. Wichtig ist laut Koller das Wechselspiel zwischen lockeren und schweißtreibenden Workouts.

Für ihn entspricht der Tiktok-Trend dem Zeitgeist – lange lagen anstrengende Trainings, die in möglichst kurzer Zeit absolviert wurden, im Trend, seit der Pandemie gehen es viele gemütlicher an. Das liege auch daran, dass Stress und psychische Belastung durch das Weltgeschehen zugenommen haben.

Lust auf mehr

Unter ihren Cozy-Cardio-Videos bekommt Zuckerbrow viel positives Feedback – etwa dass Sport dank ihrer Methode weniger furchteinflößend wirke. Sie will mit dem Konzept jenen helfen, die Sport als Strafe sehen oder ihn nur machen, um Kalorien zu verbrennen. Die Botschaft: Bewegung kann schön sein.

Das gemütliche Cardiotraining könnte ein guter Einstieg in mehr Bewegung sein, urteilt Koller – und vor allem einer, der Lust auf mehr macht. Das muss gar nicht kompliziert sein: Auch anstrengendere Workouts haben im Wohnzimmer Platz. Und sie funktionieren sogar bei Kerzenschein. (Franziska Zoidl, 25.11.2023)