Wien war für Bundestrainer Julian Nagelsmann (li.), Thomas Müller und Kollegen keine Reise wert.
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Deutsche Kapazitäten des Fußballs schlagen Alarm – egal ob Felix Magath, Rudi Völler, Lothar Matthäus, Dietmar Hamann, Fredi Bobic oder Markus Babbel. Auch Joachim Löw leidet. Kratzen, beißen, kämpfen – dieser Art von Fußball kann der frühere Bundestrainer nichts abgewinnen. "Ich kann es nicht mehr hören, wenn Trainer und sogenannte Experten immer mit den deutschen Tugenden ankommen", sagte der Weltmeister-Coach von 2014 zuletzt im Spielmacher-Podcast von 360 Media und legte sich fest: "Wenn jemand denkt, mit deutschen Tugenden könnte man heute Spiele gewinnen, täuscht er sich gewaltig. Für die DFB-Teams und die Bundesligisten gilt es, durch spielerische Akzente die Partien zu gewinnen."

Doch genau das ist das Problem. Die DFB-Elf gewinnt seit fünf Jahren selten Spiele – bei Turnieren ohnehin nicht mehr. Das war unter Löw so und änderte sich auch nicht unter Hansi Flick. Auch die Hoffnung, Julian Nagelsmann könne das havarierte Flaggschiff des DFB schnell wieder auf Kurs bringen, hat sich nach den alarmierenden Niederlagen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) zerschlagen. Seit der Blamage im Erst-Happel-Stadion ist vielmehr ein Richtungsstreit entbrannt. Knapp sieben Monate vor der Heim-EM lautet die Frage: Was benötigt das DFB-Team, Künstler oder Arbeiter?

Viele Baustellen

Magath weiß nach dem nächsten enttäuschenden Auftritt der DFB-Elf überhaupt nicht, wo er mit seiner Kritik anfangen soll. "Es fehlt überall", sagte der dreimalige Bundesliga-Meistertrainer bei Sky, "der eine sagt Verteidiger, der andere Stürmer. Der Dritte spricht den Innenverteidiger an, und der Letzte beschwert sich, dass wir keinen Sechser haben. Und jeder hat irgendwo ein bisschen recht."

Beim 0:2 in Wien gefielen Magath auch die Personalentscheidungen von Nagelsmann nicht: "Wenn ich als Trainer will, dass meine Mannschaft kämpft, dann stelle ich auch mal einen Spieler auf, der robust ist und dazwischenhaut. Und eben nicht nur Spieler, die technisch gut sind und den Ball laufen lassen." Er habe gedacht, nach der Niederlage gegen die Türkei komme "eine Reaktion auf die Partie in Berlin, aber da war nichts mit Reaktion, sondern im Grunde weitere 90 Minuten von dem Spiel zuvor".

Deutschland Österreich Nagelsmann
Nagelsmann musste leiden. Die erhoffte Reaktion blieb aus.
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Magath nahm auch den DFB in die Pflicht. "Das Hauptübel ist, dass man beim DFB nicht bereit ist, tatsächlich mal eine Analyse zu machen", kritisierte der frühere deutsche Nationalspieler: "Unser ehemaliger Bundestrainer hat gesagt, er übernimmt die Verantwortung, ist dann aber erstmal sechs Wochen in den Urlaub gefahren. Es gibt, so glaube ich, heute noch keine richtige Analyse."

Hamann bemängelt fehlende Stabilität

Wie Magath hat auch Hamann Nagelsmann harsch kritisiert. "Wenn ich mir die Aufstellung vom Dienstag anschaue, dann braucht man sich wenig wundern, dass man keine defensive Stabilität oder Kontrolle über das Spiel hatte", sagte der Sky-Experte.

Nagelsmann habe sieben offensive Spieler aufgeboten, kritisierte Hamann und forderte: "Dann muss man eben eine Mannschaft aufstellen, die alle Facetten abdeckt." Auf die Frage, ob Nagelsmann der richtige Trainer sei, antwortete Hamann: "Das werden wir sehen." Nagelsmann habe nur wenig Zeit bis zur EM, sagte er, "er weiß nach den ersten Spielen nun aber vermutlich weniger, als er vor den Partien wusste. Die Spiele waren also verschenkt. Probieren ist schön, du musst aber erstmal Stabilität haben".

Babbel sieht das DFB-Team nach der 0:2-Niederlage endgültig am Tiefpunkt. "Schlimmer kann es nicht mehr werden!", sagte der Europameister von 1996 im ran-Interview: "Man sollte das Jahr jetzt mal sacken lassen und in 2024 neu angreifen – und zwar mit den richtigen Fragestellungen: Was macht den Fußball im Grunde aus und wie können wir da wieder hinkommen?"

Laut Babbel liegt beim Team von Nagelsmann "mental ein tiefersitzendes Problem" vor. "Unsere Mannschaft ist im Moment nicht bereit, alles auf dem Platz zu lassen. Es ist auffallend, dass sie sehr lethargisch spielen, ohne Körpereinsatz oder den Willen, auch mal jemandem wehzutun. Kein Esprit, keine Freude – alles wirkt sehr angestrengt", so der Ex-Profi.

Löw vermisst Fortschritte

Löw beschwört "taktische und technische Fortschritte". Diese habe man zuletzt "versäumt". Grundsätzlich trifft er damit auch den Nerv Nagelsmanns. Doch den Bundestrainer haben die besorgniserregenden Auftritte in Berlin und Wien zum Nachdenken gebracht. Vielleicht, so Nagelsmann, müsse man "auf zwei Prozentpunkte Talent verzichten und zwei mehr 'Worker' reinwerfen". Denn der 36-Jährige ist sich sicher, dass seine Mannschaft bis zur EURO nicht mehr zu einem "Verteidigungsmonster" werde.

Warum eigentlich nicht? Für Jürgen Kohler ist es "zu wenig zu sagen, wir haben keine Verteidigungsmonster". Dann müsse man das eben üben, schreibt der Weltmeister von 1990 im kicker und kam zu dem Schluss: "Verteidigen ist leichter zu lernen als Kreativität."

22 Gegentreffer

Für die DFB-Auswahl offensichtlich nicht. In den vergangenen zehn Spielen musste man 22 Gegentreffer hinnehmen. Bei einem großen Turnier stand die Null letztmals im EM-Achtelfinale 2016 gegen die Slowakei (3:0). "Jetzt geht es um Struktur und Stabilität im Zentrum und darum, Zweikämpfe zu gewinnen. Wir wurden 1996 nicht ohne Grund mit Dieter Eilts und Steffen Freund Europameister", sagte Fredi Bobic und brachte als Kandidaten "Robert Andrich und Rani Khedira" ins Spiel.

Bis zu den Länderspielen im März muss Nagelsmann bei Taktik und Personal wichtige und richtige Entscheidungen treffen. "Spieler wollen und brauchen Klarheit, aber wer weiß denn überhaupt, dass er in dieser Mannschaft gesetzt ist? Keiner weiß so richtig, woran er ist", kritisierte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus in seiner Sky-Kolumne und forderte: "Nagelsmann muss sich langsam auf einen Kern-Kader sowie auf ein System festlegen." Dazu könnte auch eine Rückversetzung von Joshua Kimmich auf die Problemposition hinten rechts gehören. "Dort", betonte Bobic, "ist er am wertvollsten".

Rudi Völler will den Hebel in Sachen Einstellung ansetzen. "Wir müssen die fünf bis zehn Prozent an Leidenschaft, an Energie, an Dynamik in das Spiel bringen", sagte der DFB-Sportdirektor. In diesem Zusammenhang sprach er auch von "deutschen Tugenden". Zum Unmut von Löw. (sid, red, 24.11.2023)