SOS im Kinderdorf Draria in Algerien.
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Seit genau einem Jahr liegt die Facebook-Seite von SOS-Kinderdorf in Algerien still. Zuvor waren in regelmäßigen Abständen Spendenaufrufe, Fotos und Videos gepostet worden. Sie zeigten etwa die liebevoll gestalteten Baracken im Ort Draria, in denen zahlreiche Waisenkinder – ein großer Missstand in Algerien – seit Jahren ein sicheres Zuhause finden.

Dass die Facebook-Seite stillliegt, ist kein Zufall: Wie DER STANDARD aus anonymen Quellen erfuhr, wurden vor genau einem Jahr, also Ende November 2022, Vertreter des staatsnahen algerischen Roten Halbmonds vorstellig. Sie zückten einen Brief der Präsidentschaftskanzlei, wonach SOS-Kinderdorf im eigenen Kinderdorf nichts mehr zu melden hätte – also konkret der algerische Ableger der gleichnamigen vor rund 70 Jahren im österreichischen Tirol gegründeten NGO.

Das Sagen hätte fortan der regimenahe Rote Halbmond. Ein entsprechendes präsidentielles Dekret wurde zwar angekündigt, dürfte aber noch ausstehen.

Funkstille seitens der Dachorganisation

Mindestens acht führenden Angestellten der damals rund 35 Mitarbeiter wurde ab sofort der Zugang zu dem Gelände verwehrt, während insbesondere die Erzieherinnen der Waisenkinder ihre Arbeit unter unklaren Bedingungen fortsetzen sollten. Viele Betroffene befinden sich laut anonymen Informationen, die dem STANDARD übermittelt wurden, seither in der Schwebe. Ihre Kritik richtet sich nicht nur an den Roten Halbmond, sondern insbesondere an die Dachorganisation SOS-Kinderdorf International, mit Sitzen unter anderem in Wien und in Innsbruck. Denn sie sei auf dem Papier weiterhin der Arbeitgeber.

Sie seien von ihr im Stich gelassen worden, hätten weder Erläuterungen zur Aussagekraft des Briefes noch Kündigungen, Lohnfortzahlungen oder sonstige Hilfeleistungen geschweige denn Antworten auf Kontaktansuchen bekommen, heißt es. Man sei vom zuständigen SOS-Regionalbüro im senegalesischen Dakar lediglich an Anwälte verwiesen worden – auch Personen, die für Pensionsantritt, Arbeitslosengeld beziehungsweise Jobsuche ein Arbeitszeugnis gebraucht hätten. Das sei einer Hilfsorganisation, für die man sich seit Jahren mit Hingabe einsetze und die für Solidarität stehe, nicht würdig, so die Kritik. Gehofft wird immer noch, dass die Dachorganisation in Österreich aktiv wird, um die Funkstille zu brechen und die Situation aller Mitarbeiter zu klären.

Auf Geheiß der Behörden

Auf STANDARD-Nachfrage bei SOS-Kinderdorf International ging man mit Verweis auf laufende Justizverfahren nicht auf die Vorwürfe ein. Jedoch bestätigt man die Übernahme des SOS-Kinderdorfs in Draria durch den algerischen Roten Halbmond. Man habe sich mit den örtlichen Behörden in Verbindung gesetzt, um eine reibungslose Transition zu ermöglichen, hieß es in dem Antwortschreiben. "Über das Wohl der Kinder können wir leider keine Auskünfte mehr erteilen, jedoch sind wir zuversichtlich, dass der Rote Halbmond für ihren Schutz und ihr Wohl sorgt", so ein Sprecher.

Warum genau es zum Rauswurf kam, ließ die Dachorganisation in ihrem Antwortschreiben offen. Auch auf diversen SOS-Kinderdorf-Webseiten ist seit Monaten lediglich von einem Ende der Aktivitäten in Draria aufgrund eines Beschlusses nationaler Behörden in Algerien "bis auf weiteres" zu lesen. In der ersten öffentlichen Stellungnahme des zuständigen internationalen Büros von SOS-Kinderdorf in Dakar vor wenigen Wochen wies man jegliche Verantwortung für Kinder und Personal von sich.

Angst vor neuem Hirak

Der Rauswurf von SOS-Kinderdorf aus seinem Hilfsprojekt in Draria erfolgt vor dem Hintergrund zunehmenden Drucks auf Menschenrechtler und ausländische Hilfsorganisationen in Algerien. Das Land wird schon seit Jahrzehnten autoritär regiert. Doch seit dem sogenannten Hirak (arabisch für "Bewegung"), den Massenprotesten 2019, die zum Sturz des damaligen Langzeitstaatschefs Abdelaziz Bouteflika führten, scheint die alte Elite – ein Netzwerk aus Militärs, Politikern und Businessleuten mit Präsident Abdelmadjid Tebboune als neuem Gesicht – umso mehr um ihren Machterhalt besorgt.

Zwar hat die Covid-Pandemie die mutige Massenbewegung und ihre Forderungen nach Freiheiten abgewürgt. Zudem profitiert das ölreiche Land wirtschaftlich von den gestiegenen Energiepreisen und Europas Suche nach neuen Energielieferanten im Zuge von Russlands Angriff auf die Ukraine. Doch das nutzt nur wenigen. Mangels politischer Wende bleibt die Sorge der alten Elite also groß, dass der Widerstand in der Bevölkerung wieder aufkeimen könnte. Und im nächsten Jahr stehen wieder Präsidentschaftswahlen an.

Leitende STANDARD-Redakteurin Gudrun Harrer im Gespräch mit Nordafrika-Expertin Isabelle Werenfels über die jüngsten Entwicklungen in der Region.

Vor diesem Hintergrund verschärft das Regime seine Repressionen: Medienschaffende stehen massiv unter Druck, ausländischen Journalisten wird die Einreise verunmöglicht. Der prominente Journalist Ihsane El Kadi wurde, wie zahlreiche andere kritischen Stimmen, weggesperrt. Etliche weitere flohen ins Exil. Darunter Said Salhi, Chef der algerischen Menschenrechtsliga, einer der ältesten und wichtigsten Menschenrechtsorganisationen des Landes. Sie wurde von der Justiz im Sommer des Vorjahres aufgelöst, erfahren haben es die Mitarbeiter erst im Frühjahr dieses Jahres auf Facebook. Auch die Caritas musste nach Angaben der katholischen Kirche ihre Arbeit auf Geheiß der Behörden im Vorjahr beenden.

Steiniger Weg

SOS-Kinderdorf, das seit den 1980er-Jahren in Algerien aktiv ist, wurde zwar nicht aufgelöst, seine Arbeit aber verunmöglicht. Unklar bleibt, warum es letztlich so weit kam. Schließlich war es der NGO bisher trotz des steinigen Weges immer gelungen, ihre Arbeit fortzusetzen. So wurden schon 2012 alle ausländischen Organisationen gezwungen, eine neue behördliche Zulassung zu beantragen. Diese wurde SOS-Kinderdorf nicht erteilt, und die Bankkonten der NGO wurden gesperrt. Das örtliche Team von SOS-Kinderdorf berief sich jedoch weiterhin auf seine Zulassung aus dem Jahr 2005, und setzte seine Arbeit fort, die fortan über lokale Spenden finanziert wurde. Der ungeklärte rechtliche Status von SOS-Kinderdorf in Algerien dürfte den Behörden nun jedoch als Grund für den Rauswurf aus Draria gedient haben – zumindest offiziell.

Indes führt der staatsnahe Rote Halbmond das Hilfsprojekt mit einem leicht abgewandelten Kinderdorf-Logo fort. SOS-Kinderdorf in Dakar hat den neuen Betreiber dazu aufgerufen, das Logo der Organisation nicht mehr zu verwenden, insbesondere bei Spendenaufrufen. Auf der Facebook-Seite nennt sich das Hilfsprojekt in Draria jedoch immer noch SOS-Kinderdorf. (Flora Mory, 30.11.2023)