Bald nachdem die zweitgrößte Stadt Litauens ihr langerwartetes Kulturhauptstadtjahr 2022 einläuten durfte, folgte die Beanstandung: Ein offener Brief bemängelte, dass Kaunas nicht (mehr) am Schienenweg erreichbar sei. Von den Entscheidungsträger:innen wurden Bemühungen um eine Wiederaufnahme der Verbindung nach Polen – und somit nach Resteuropa – gefordert. Und, siehe da, im Sommer fuhren wieder Züge über die Grenze.

Inwiefern ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Brief und Wiederaufnahme bestand, lässt sich aus der Ferne schwer beurteilen. Wesentlich scheint vielmehr, dass im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine grundsätzliche Erreichbarkeit nicht mehr zu genügen scheint. Erwartet wird nunmehr eine Erreichbarkeit mithilfe eines bestimmten Verkehrsmittels, das als besonders umweltschonend und bequem gilt – der Eisenbahn; insbesondere wenn die Infrastruktur physisch bereits besteht. Wer nicht handelt, riskiert Kritik. Und das könnte genau dann, wenn die Scheinwerfer endlich einmal Gegenden ausleuchten, die sich lange nach mehr Aufmerksamkeit gesehnt haben, peinlich werden.

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Im Ballungsraum der beiden Stadtgemeinden Gorizia (I) und Nova Gorica (SLO) leben mehr als 70.000 Menschen. Grenzkontrollen gibt es seit 2007 nicht mehr. Beim Zusammenwachsen gibt es aber noch Luft nach oben.
Maximilian Hartmuth

Kein zweites Kaunas

Ein Wiederentdeckungsbedürfnis haben auch die beiden Nachfolgestädte der altösterreichischen Landeshauptstadt Görz. Ihr historischer Siedlungskern befindet sich heute im italienischen Gorizia. Jenseits der Grenze beginnt das slowenische Nova Gorica ("Neu-Görz"), das unter Tito in die Höhe gezogen wurde, um den Verlust des Regionalzentrums zu kompensieren.

Die Grenzlage beider Siedlungsteile war nicht ausschließlich nachteilig. Jugoslawische Tagestouristen deckten sich in Gorizia mit allem ein, das es jenseits der Grenze nicht gab. Italiener "investierten" ihr Erspartes in den Casinos von Nova Gorica.

Dann folgten Umbrüche: Slowenien machte sich von Jugoslawien unabhängig (1991), wurde EU-Mitglied (2004), und schließlich trat es auch dem Schengen-Raum bei (2007). Grenzkontrollen entfielen; Menschen und Waren bewegten sich fortan ungehindert und unbelästigt. Wie sich am in Gorizia allgegenwärtigen Leerstand erahnen lässt, tat das dem hiesigen Einzelhandel nicht gut.

Wieder zusammengewachsen sind die zwei Teilstädte aber auch nach Wegfall der Grenze nicht. Gemein ist beiden jedoch die Wehklage über Stillstand: Gorizia fehle das Leben, heißt es, und Nova Gorica die Seele. Trotzdem, oder gerade deshalb, ließe sich die europäische Jury davon überzeugen, die Doppelstadt ein Kulturhauptstadtjahr ausrichten zu lassen. Erstmals gibt es eine konkrete, gemeinsame Entwicklungsperspektive. Von der erhöhten Aufmerksamkeit versprechen sich beide Seiten viel – möglicherweise auch zu viel.

Die Schiene als Entwicklungsmotor

Das alte Görz wurde schon 1860 an die Südbahn (Wien–Ljubljana–Triest) angeschlossen. Die Platzierung des Bahnhofs südwestlich der Stadt bestimmte die Richtung der weiteren Siedlungsentwicklung. Um Triest auch aus dem Norden anzubinden, wurde 1906 eine weitere durch Görz führende Bahnstrecke eröffnet. Die sogenannte Wocheinerbahn verlief danach östlich des alten Siedlungskerns an der Stadt vorbei.

Die ausgezeichnete Verkehrsanbindung innerhalb der Monarchie führte dazu, dass landwirtschaftliche Produkte aus dem fruchtbaren Görzer Umland erntefrisch auf die Märkte jenseits des Alpenhauptkamms gelangen konnten. Ja sogar ein gewisser touristischer Erfolg stellte sich ein, denn das milde Klima zog kränkliche Donauländer an, die hier überwinterten.

Der Erste Weltkrieg verlief im vielsprachigen Görzer Gebiet dann jedoch gar blutig; es fiel schließlich an Italien. Infolge des Zweiten Weltkriegs verschoben sich die Grenzen noch einmal zugunsten Jugoslawiens. Gorizia wurde eine Grenzstadt fern von Rom.

Aber schon als Wien seinen Hafen Triest abtreten musste, verlor auch die Wocheinerbahn ihre überregionale Bedeutung. Sie blieb eingleisig und nicht elektrifiziert. Das reicht für die dieselbetriebenen Regionalzüge, die hier ab und zu entlang der Westgrenze Sloweniens bummeln. Deutlich mehr Personen verkehren auf der Bahnstrecke zwischen Triest und Udine, die auf italienischer Seite verblieb, und das schneller und umweltfreundlicher.

Grenzübergreifende Verbindungen fahren aber weder in den italienischen noch in den slowenischen Bahnhof des Ballungsraums ein, in welchem insgesamt doch über 70.000 Menschen leben. Züge zwischen Villach und Triest sowie zwischen Ljubljana und Udine werden über den Triester Flughafen und somit in großem Bogen am Doppel-Görz vorbeigeführt.

Während der Bahnhof "Gorizia Centrale" zumindest innerhalb Nordostitaliens (vor allem über Udine, aber auch Venedig und Triest) häufig und gut angebunden ist, weist jener von Nova Gorica keine vergleichbare Bedienungsqualität auf (siehe Grafik). Dabei wäre er, am Schnittpunkt der beiden Städte gelegen, geradezu dazu prädestiniert, eine zentralere Rolle für die internationale Anbindung des Görzer Ballungsraums mit seinen beiden, von hier fußläufigen Zentren zu spielen.

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Bahnhöfe gibt es sowohl im italienischen Gorizia als auch im slowenischen Nova Gorica. Die Bedienungsqualität ist allerdings sehr unterschiedlich. Die Grafik visualisiert "connection time gaps" (CTG) auf Basis des Fahrplans von 2022. Die Wahrscheinlichkeit, Anschlussverbindungen zu verpassen, ist in Nova Gorica sehr hoch.
Grafik: Tadej Brezina

Wann, wenn nicht 2025?

Ganz (so) einfach ist es allerdings nicht. Der Fall der Wocheinerbahn zeigt exemplarisch diverse Probleme der Wiederertüchtigung untergenutzter Bahnstrecken im Alpen-Adria-Raum auf, wie sie in Zeiten der Klimakrise topaktuell scheint.

Wohl auch, weil sich ihre Kurven nach Wien und Triest und nicht nach Ljubljana drehen, kommt der Wocheinerbahn innerslowenisch eine geringe Verkehrswirkung zu. Da sie von Elektrifizierungsmaßnahmen bislang ausgenommen wurden, müssten Züge südlich vom Grenzbahnhof Jesenice im Dieselbetrieb weitergeführt werden; entweder durch Lokwechsel ebendort oder durch Verwendung eines Zweikrafttriebwagens (das heißt Diesel- und Strombetrieb).

Da in Österreich und Slowenien im letzten Jahrhundert unterschiedliche Bahnstromsysteme (Gleich- beziehungsweise Wechselstrom) zur Verwendung gelangten, würde aber auch eine Elektrifizierung der Strecke auf slowenischer Seite nicht auf einem Schlag sämtliche Probleme lösen. Ferner macht die teilweise Eingleisigkeit zentrale Streckenteile (etwa den Karawankentunnel) zum Flaschenhals.

Wäre es also ausgeschlossen, dass noch doch vor 2025 eine Verbesserung der Schienenanbindung der Görze über die Transalpina geschaffen wird? Nicht unbedingt; man müsste angesichts ausgedehnter Verwirklichungshorizonte und hoher Kosten allerdings die großen Visionen und die damit verbundenen Ideale (Vollelektrifizierung, Zweigleisigkeit) in ihrer Schlagkraft hinterfragen.

Alle Wege führen nach Villach

Drei Lösungsansätze für kurz- bis mittelfristige Verbesserungen im Rahmen der bestehenden Infrastruktur und des verfügbaren Rollmaterials sind denkbar. In allen dreien wird von einer Verbindung nach Villach ausgegangen, weil dort die zahlreichen Schnellverbindungen nach Deutschland und Rest-Österreich "angezapft" werden könnten. Kein anderer öffentlicher Verkehrsknoten im Alpen-Adria-Raum wickelt regelmäßigere Verbindungen aus diverseren Ursprungsorten außerhalb Italiens und Sloweniens ab. Hier, am Südende der Tauern, und nicht erst in Udine oder Ljubljana, wird verteilt.

Von den bereits in den Alpen-Adria-Raum veranstalteten "Kulturhauptstädten" weiß man zudem, dass ein beträchtlicher Prozentsatz der zu erwartenden Besucher(innen) aus dem nahen Ausland kommen wird. Unter den mehr als zwei Millionen Besucher:innen Maribors (2012) waren Österreicher:innen die bei weitem größte ausländische Gruppe. In Graz, das 2003 fast drei Millionen Kulturaffine besuchten, gab es ebenfalls die größten Zuwachsraten bei Besucher:innen aus Slowenien.

Dass der Anteil von Tagestourist:innen wohl hoch sein wird, mag Görz zugutekommen, zumal die örtlichen Unterbringungskapazitäten eher begrenzt sind. Das monierten bereits die EU-Evaluator:innen und empfahlen eine Aufstockung. Doch während Tagestourist:innen aus den Ballungszentren Nordostitaliens bequem mit einem Direktzug anreisen können und auch innerhalb Sloweniens attraktive Direktbus-Verbindungen bestehen, ist die Anbindung nach Norden verbesserungsbedürftig.

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Villach wäre der logischste Umsteigeknoten für Reisen zwischen Görz (über die Wocheinerbahn) und dem Rest Europas. Hier halten regelmäßige Schnellverbindungen aus weiten Teilen Österreichs und Deutschlands, bevor sie nach Italien, Slowenien und Italien weiterfahren. Eine Verbindung mit einem der beiden Görzer Bahnhöfe gibt es derzeit nicht. Würde eine solche vor 11 Uhr in Villach aus Slowenien ankommen und nach 13 Uhr abfahren, könnten Anschlusszüge aus/nach Wien und München erreicht werden.
Grafik: Tadej Brezina

"Quick fixes" mit Schönheitsfehlern

Im ersten der drei Szenarien ("Huckepack") würde der Dieseltriebwagen-Regionalzug aus Nova Gorica an seinem jetzigen Endpunkt Jesenice einfach an Schnellzüge angehängt, die zwischen Ljubljana und Villach verkehren. Er würde danach durch den eingleisigen Tunnel nach Villach gezogen und dort für den Rückweg auf Schnellzüge in Richtung Ljubljana warten, um in Jesenice wiederum von diesen abgehängt zu werden und auf der Wocheinerbahn weiterzufahren.

Fahrgäste würden auf diese Weise eine umstiegsfreie, grenzübergreifende Verbindung zwischen Villach und Nova Gorica gewinnen. Ein Dieselzug würde nur dort eingesetzt, wo es nicht vermeidbar ist, nicht aber auf einer elektrifizierten Strecke; denn das wäre 2025 wohl schwer vertretbar. Der slowenische Bahnbetreiber (Slovenske železnice, SŽ) müsste allerdings den Fahrplan so anpassen, dass der Regionalzug zu Mittag in Villach die Anschlusszüge aus/nach Wien und München trifft. Ferner müssten sich die SŽ nun um Rangieren in Jesenice kümmern.

In einem zweiten Szenario ("Karawanken-Shuttle") würden lediglich die Fahrpläne besser aufeinander abgestimmt. Die Ankunft beziehungsweise Abfahrt von Regionalzügen in/aus Richtung Nova Gorica in Jesenice müsste so fallen, dass Fahrgäste anschließende Schnellzüge über die Grenze als Shuttle durch den Karawankentunnel verwenden können. Aktuell verpassen sich die relevanten Züge.

Erneut könnte damit der Betrieb eines Dieseltriebwagens auf einer elektrifizierten Strecke vermieden werden. Für den Fahrgast sind die Vorzüge weniger eindeutig: Einerseits wird Reisenden erlaubt, überhaupt mit dem Zug nach Nova Gorica zu gelangen, ohne Stunden auf Bahnsteigen totschlagen zu müssen. Andererseits bleibt diesen der Umstieg in Jesenice leider nicht erspart. Jeder Fahrzeugwechsel bedeutet Stress und schmälert die Attraktivität eines öffentlichen Verkehrsmittels gegenüber Alternativen.

Das dritte Szenario nimmt den Betrieb eines Dieselfahrzeugs auf einer elektrifizierten Strecke (nämlich Jesenice–Villach) in Kauf und spekuliert, dass sonst durch Auto- oder Busfahrten auf derselben Strecke verursachte Emissionen dadurch irgendwie kompensiert würden. Dafür gehen wir in diesem Szenario aber gleich von einer neuen Tagesverbindung aus, während die vorigen Szenarien lediglich Rollmaterial betrafen, das zu diesen Zeiten bereits auf den Schienen ist.

Der Attraktivitätszuwachs muss spürbar sein, um Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Folglich könnte diese neuartige Verbindung darauf abzielen, jene Orte entlang der Wocheinerbahn zu bedienen, die beträchtliche touristische Fahrgastpotenziale aufweisen. So etwa die Gebiete um Bled, Bohinj und das Isonzo/Soča-Tal, die teilweise akut am Touri-Autoverkehr leiden, worüber auch DER STANDARD im Herbst 2022 berichtete. Für Reisende wäre dieses "Regionalexpress"-Szenario das wohl attraktivste, da zeitökonomischste, allerdings leider nicht das ökologisch nachhaltigste.

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Die drei Szenarien im Vergleich: Im ersten Szenario hängt sich der dieselbetriebene Regionalzug (grün) an den Schnellzug (gelb) an, um umstiegsfrei (und emissionsarm) nach Villach zu gelangen. Im zweiten Szenario werden die Fahrpläne besser aufeinander abgestimmt, sodass der Schnellzug als Shuttle zwischen Villach und Jesenice genommen werden kann und Anschlusszüge erreicht. Im dritten Szenario fährt ein neuer, an touristischen Potenzialen orientier Regionalexpress nach Villach durch, allerdings (noch) mit einem schwerwiegenden Schönheitsfehler.
Grafik: Tadej Brezina

Ist der Akku halbleer oder halbvoll?

Was ein Vergleich der Szenarien jedenfalls zu belegen scheint, ist, dass kurzfristige Verbesserungen auch immer einen Verlierer hätten: der Verkehrsdienstleister, der zusätzliche Ressourcen in Richtung Verschub mobilisieren müsste (Szenario 1); der Fahrgast, dem ein im Idealfall entbehrlicher Umstieg nicht erspart bleibt (Szenario 2); oder die Umwelt, die dem Vorhandensein umweltfreundlicher Infrastruktur zum Trotz umweltunfreundlich durchfahren würde (Szenario 3).

Mittelfristig, also für die Zeit nach 2025, scheint jedoch Licht am Horizont. Die ÖBB haben zuletzt in einem ähnlichen Terrain einen Triebwagen als "Cityjet eco" im erfolgreichen Pilotbetrieb geführt (DER STANDARD berichtete auch hierzu), der von elektrifizierten Strecken ausgehend in nichtelektrifizierte durchgebunden wird und dort im Akkubetrieb weiterläuft. Um Produktionskosten zu sparen, wurde dafür ein bestehender Triebwagen durch Anbringen eines Batteriesystems am Dach umgerüstet.

Unter welchen Umständen diese Betriebsform auf die Wocheinerbahn umlegbar ist, wäre zwischen ÖBB und SŽ zu ermitteln. Wohl würde es nicht schaden, gleich über zusätzliche Ausweichstellen und punktuelle Elektrifizierungen nachzudenken, um den Akku zu entlasten, der noch nicht für überlange Strecken ausgerichtet ist. Das Triebfahrzeug müsste zudem in den national unterschiedlichen Stromsystemen verkehren können. Dabei handelt es sich aber um technische Fragen, die infolge einer grundsätzlichen Entscheidung durchaus lösbar scheinen.

Die Infrastruktur von gestern für morgen

Wer sein heutiges Reiseverhalten auf Destinationen zuschneidert, die gut mit der Bahn erreichbar sind, bewegt sich vielfach im Verkehrsnetz des 19. Jahrhunderts, geschaffen für Bewegungsbedürfnisse innerhalb von Staaten, die es heute nicht mehr gibt. Phänomene des 20. Jahrhundert – Automobilismus, Suburbanisierung und allem voran der Nationalstaat – schufen alternative Raumsysteme, verbunden mit neuen Grenzen politischer, betrieblicher und kultureller Natur. Der Nationalstaat manifestiert sich besser im rezenteren Netz an Autobahnen und Schnellstraßen. Nova Gorica wird wohl nie mehr so attraktiv mit der Bahn angebunden sein können, wie es heute mit Auto oder Bus über die das hochrangige Straßennetz Sloweniens möglich ist.

Die Inflexibilität der Eisenbahninfrastruktur als physische Realität wird heute vielfach als Nachteil gegenüber anderen Verkehrsmodi, die zwei beliebige Punkte unmittelbarer verbinden vermögen, wahrgenommen. Die Vorteile eines historischen Anteils an diesem rigiden Geflecht aus Eisen wurden mancherorts noch nicht erkannt. Es könnte mit überschaubarem Aufwand wieder genau auf jenen Relationen wettbewerbsfähig werden, auf welchen es schon im 19. Jahrhundert reüssierte. Abseits der Metropolen braucht es dafür möglicherweise einen Stimulus von außen – beispielsweise ein Kulturhauptstadtjahr. (Maximilian Hartmuth, Tadej Brezina, 6.12.2023)