Schule
In der Montessori-Schule sollen die Kinder intrinsisch motiviert werden.
APA/EVA MANHART

Es ist sehr ruhig in der Montessori-Schule in der Wiener Grashofgasse. Zwei Buben sitzen auf dem Boden. Vor ihnen liegen Karten, darauf sind unterschiedliche Pflanzen abgebildet. In einer anderen Ecke löst ein Mädchen Rechenaufgaben. Rund 20 Kinder von der ersten bis zur sechsten Schulstufe lernen hier zusammen – ohne Druck durch Noten.

"Wir haben keine Ziffernnoten, weil wir sie schlicht nicht brauchen", erklärt Saša Lapter, der an der Schule lehrt und sie gemeinsam mit seiner Frau gegründet hat. Sie wüssten immer sehr genau über den Entwicklungsstand und akademischen Fortschritt jedes Kindes Bescheid. Wieso das dann noch in einer Zahl ausdrücken?

Ohne Strafen und Belohnungen

Keine Noten zu vergeben: Das ist typisch für Montessori-Schulen. Kinder seien ohnehin von sich aus motiviert zu lernen, dafür brauche es weder Strafe noch Belohnung, lautet ein Grundgedanke der Montessori-Pädagogik. Das Konzept wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der Ärztin und Philosophin Maria Montessori in Italien begründet. Montessoris erste Schülerinnen und Schüler waren geistig behinderte und vernachlässigte Kinder.

In Montessori-Schulen erschließen sich die Kinder und Jugendlichen viele Inhalte in einer "vorbereiteten Umgebung" selbst. Zu dieser Umgebung gehören bestimmte Lehrmaterialien, die die Sinne und die Konzentration der Kinder anregen sollen. Mit der "Apotheke" können sie zum Beispiel Division üben, indem sie kleine Holzkügelchen auf Reagenzgläser verteilen. Heute haben Montessoris Ideen Anhänger auf der ganzen Welt – einige setzen sie sehr strikt um, andere handhaben sie freier. Zwar unterscheidet sich die Montessori-Pädagogik stark vom Ansatz staatlicher Schulen. Der Verzicht auf Noten hat aber auch unter hochrangigen Politikern Anhänger.

So forderte der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) erst kürzlich, Noten abzuschaffen. Statt punktueller Abfragung und Benotung in einzelnen Fächern solle lieber der Gesamtwissensstand berücksichtigt werden. In der Volksschule solle man eher zu einer verbalen Benotung kommen. Das aktuelle System entspreche nicht mehr dem neuesten Erkenntnisstand der Pädagogik.

Neu ist die Diskussion nicht – bis zur Pädagogikreform 2018 wurden Kinder oft erst ab der vierten Schulstufe benotet. Seit der Reform sind Ziffernnoten ab dem Jahreszeugnis der zweiten Volksschulklasse verpflichtend. Auch damals kochte die Diskussion hoch. Argumente gegen Noten gibt es viele. Kritiker wenden zum Beispiel ein, dass die Zahlen von Eins bis Fünf ein viel zu allgemeines und oberflächliches Feedback gäben. Ein Fünfer zeige zwar, dass die Leistung nicht genügt. Unklar bleibe jedoch, was genau verbessert werden muss. Außerdem seien Noten keinesfalls objektiv.

Diese Ansicht vertritt zum Beispiel die Bildungssprecherin der Grünen, Sibylle Hamann. Auch Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben sich mit der Frage beschäftigt. Eine Untersuchung der deutschen Forscherin Astrid Kaiser hat beispielsweise gezeigt, dass Lehrer ein und denselben Aufsatz je nach Name des Schülers völlig unterschiedlich bewerten.

Metrik beeinflusst Motivation

Montessori-Lehrer Lapter sieht noch ein Problem: "Es ist immer so, dass die Metrik, die man innerhalb einer Organisation hat, beeinflusst, wie die Menschen arbeiten, wie ich aus meiner Zeit als Organisationsberater weiß." Diesem Prinzip folgend würde ein schlauer Mensch nur so viel tun, wie für eine bestimmte Note, die er anstrebt, notwendig ist. Um diesen Effekt zu vermeiden, gilt in der Wiener Montessori-Schule vor allem: Der Weg ist das Ziel. Am allerwichtigsten sei ihm und seinen Kollegen, dass die Kinder mitarbeiten. "Je nach Kind sind dann die Ergebnisse sehr unterschiedlich, aber diese sind für uns immer gleichermaßen wertvoll, wenn das Kind sich angestrengt hat", erzählt Lapter. So blieben die Kinder motiviert, sich auch in Zukunft zu bemühen.

Statt Noten erhalten sie direktes Feedback von den Lehrpersonen. In kleinen "Lektionen" erklären diese den Stoff und geben den Kindern Aufgaben, die sie dann in langen Phasen selbstständiger Arbeit lösen. Sie fragen die Schülerinnen und Schüler, womit sie sich gerne beschäftigen wollen, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt. Da die Kinder altersgemischt lernen, können die Älteren den Jüngeren helfen.

Am Ende des Jahres gibt es statt eines klassischen Zeugnisses einen Bericht, der ungefähr eine DIN-A4-Seite umfasst. Darin steht, was die Schüler gut können und womit sie sich noch schwertun. In Tabellen dokumentieren sie selbst, womit sie sich in der Schulzeit beschäftigen. Hinter dieser individuellen Beurteilung steckt der Gedanke, dass alle Kinder sehr unterschiedlich sind und deshalb auch nicht über einen Kamm geschoren werden sollten. "Im traditionellen Schulsystem wird schnell der Eindruck vermittelt, dass alle Kinder einer Klassenstufe einander sehr ähnlich sind und nach einem gleichen Raster beurteilt werden können", sagt Lapter.

Sind Zahlen prägnanter?

Gerade diese fehlende Vergleichbarkeit wird von Befürwortern des traditionellen Bewertungssystems gerne moniert. Außerdem sei eine Zahl deutlich prägnanter, finden Notenfans wie der ÖVP-Bildungssprecher Rudolf Taschner. Noten gäben auch einen Leistungsanreiz, argumentieren Befürworter wie der FPÖ-Unterrichtssprecher Hermann Brückl. Überspitzt gesagt: Wer unbedingt einen Einser bekommen will, strengt sich sehr an und hat am Ende viel gelernt. Ob die Motivation nun von außen oder von innen kommt – wichtig ist das Ergebnis.

Ohne Noten lernen – ist das vielleicht Kuschelpädagogik, die am Ende zu einer schlechteren Ausbildung der Kinder führt? Auch in der Montessori-Schule können nicht immer alle Schülerinnen und Schüler dazu motiviert werden, sich anzustrengen. "Es gibt gelegentlich Fälle, in denen Kinder es nicht schaffen zu lernen", erzählt Lapter. Gerade Schülerinnen und Schüler, die aus dem traditionellen Schulsystem hierher wechseln, könnten sich oft nur "schwer auf etwas einlassen", wie er vorsichtig formuliert. Im schlimmsten Fall müsse man sich dann von diesen Kindern trennen, was aber äußerst selten vorkomme. Häufiger passiere es, dass Kinder zurückgestuft werden, weil sie nicht den Anforderungen ihrer Klassenstufe genügen. Sie müssen im nächsten Schuljahr dann aber nicht alle Lerninhalte komplett wiederholen, sondern können sich auf jene konzentrieren, die sie noch nicht gut beherrschen.

In der Küche der Montessori-Schule sitzen fünf Buben zwischen sieben und zwölf Jahren an einem kleinen Tisch und essen. Einer von ihnen war vorher auf einer anderen Schule, wo er Noten bekommen hat. Das Bewertungssystem hier gefällt ihm besser, weil immer gute und schlechte Dinge im Zeugnis stehen. Er sagt: "Die schlechten finde ich schon okay, aber meistens lese ich nur die guten durch." (Milena Wurmstädt, 11.12.2023)

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