Als die Anti-Defamation League einen Anstieg an Hasspostings, insbesondere antisemitischer Natur, auf X (vormals Twitter) dokumentierte, sorgte das beim Plattformeigner Elon Musk für wenig Freude. Dieser rückte aus und drohte mit einer Verleumdungsklage wegen sinkender Werbeeinnahmen.

Ein ähnliches Bild war zu sehen, als eine andere NGO, Media Matters, zeigte, dass Werbung von bekannten Firmen und Marken mitunter neben neonazistischen Postings und ähnlichen Botschaften einschlägiger Accounts auftaucht. Musk warf der NGO unseriöse Erhebungsmethoden und Sabotage seines Netzwerks vor. Die Werbekunden sahen das allerdings nicht so und zogen ihre Anzeigengelder ab.

Dass X nicht nur aufgrund des erratischen Verhaltens seines Eigentümers ein wachsendes Problem im Anzeigengeschäft bekommt, dürfte ein hausgemachtes Problem sein, das unmittelbar mit Entscheidungen von Musk zusammenhängt. Das legen interne Dokumente nahe, die der irischen "Business Post" zugespielt wurden.

Reichweitensenkung statt Löschung

Musk hat seit seinem Amtsantritt die menschlichen Moderationskapazitäten des Netzwerks drastisch verkleinert und bei den Entlassungen auch nicht mit kontroversen Aussagen gespart. Jenem Team, das während Wahlen etwaige Beeinflussungsversuche durch Fake-Accounts aufspüren und unterbinden sollte, warf er nach seiner Auflösung vor, eigentlich selbst Manipulation begangen zu haben. Freilich ohne Beweise dafür zu liefern.

Elon Musk in Denkerpose.
Musks Vorgaben und öffentliche Aussagen haben veritable Rückgänge im Werbegeschäft von X nach sich gezogen.
via REUTERS/POOL

Als selbsternannter "Free Speech Absolutist" hat Musk laut den Unterlagen die Moderationsregeln massiv gelockert. Grundlage dafür ist der von ihm ausgerufene Leitsatz "Freedom of Speech, not Freedom of Reach", also "Meinungsfreiheit, aber kein Recht auf Reichweite".

Die gesichteten Dokumente stammen aus dem Zeitraum von Juni bis Oktober 2023. Darin finden sich Anweisungen an Moderatoren, Nutzer für eine Reihe von Verstößen nicht mehr – wie davor üblich – temporär oder dauerhaft zu sperren. Dabei werden auch Beispiele für Postings gebracht, die zuvor entfernt worden wären, nun aber lediglich in ihrer Sichtbarkeit reduziert werden.

Video: Elon Musks Twitter-Übernahme, ein Drama in sechs Akten.
DER STANDARD

"Nächster Halt Auschwitz. Für Juden Endstation."

Zu diesen gehören beispielsweise Aufrufe zu Gewalt gegen Einzelpersonen, Verweise auf Massenmord mit dem Ziel, jemanden zu belästigen, und auch Postings, die "Angst vor einer geschützten Bevölkerungsgruppe schüren".

Eine der explizit genannten Nachrichten, die nun nicht mehr entfernt werden, lautet etwa: "Unser nächster Halt auf der Polen-Reise ist Auschwitz. Für Juden ist dies der letzte Halt. Bitte steigen Sie hier aus und nehmen Sie Ihr Gepäck mit."

Nicht mehr gröber sanktioniert wird es auch, Nutzer zu erwähnen und ein Hitler-Foto dabei mitzuschicken oder ungefragt Nachrichten sexueller Natur zu schicken. Gleiches gilt für Beschimpfungen, die sich gezielt gegen Menschen anderer Hautfarbe oder Homosexuelle richten, wie auch für Entmenschlichung von einzelnen Personen oder Bevölkerungsgruppen sowie die Leugnung gewalttätiger Ereignisse wie des Holocaust.

Statt solche Postings zu entfernen und ihnen damit sämtliche Sichtbarkeit zu entziehen, werden sie nun "schwerer entdeckbar", also weniger oft oder gar nicht mehr vom Empfehlungsalgorithmus ausgespielt. Das Ziel laut Unterlagen: "Nutzer müssen nun gezielt nach Inhalten suchen, die wir beschränkt haben, so wie sonst auch überall im Internet."

Mit dieser Änderung geht auch einher, dass die Verfasser solcher Nachrichten weder gesperrt noch verwarnt werden, auch wenn ihre Postings offiziell als Verstoß gegen die Richtlinien gelten. Ausnahmen gibt es nur noch wenige, darunter etwa das Outen einer LGBT-Person, wofür nach wie vor Löschung vorgesehen ist und weitere Konsequenzen folgen können.

Teurer Werberückgang und EU-Ärger

Der Leak könnte X weiteren Ärger mit seinen Werbekunden bescheren. Zuletzt verkündete Musk, gezielt kleine und mittelständische Unternehmen dafür gewinnen zu wollen, auf dem Netzwerk Anzeigen zu schalten. Derweil sorgen einige bezahlte Anzeigen aber auch für Kritik, weil etwa ein KI-Service auftauchte, der damit warb, Frauen auf Fotos digital zu "entkleiden".

Musk nutzte zudem seinen Auftritt auf einer Konferenz dazu, jene Firmen, die auf X keine Werbung mehr schalten wollen, zu beschimpfen. Die finanziellen Auswirkungen des Anzeigenrückgangs sind jedenfalls beachtlich. Laut Bloomberg dürften die Einnahmen in diesem Jahr um etwa 1,5 Milliarden Dollar niedriger ausfallen als noch 2022.

Auch auf politischer Ebene haben die Laissez-Faire-Regeln Folgen. Die EU-Kommission hat kürzlich die Eröffnung eines Verfahrens gegen X bekannt gegeben. In diesem wird es - neben anderen Punkten - auch um die Verbreitung von und fehlenden Maßnahmen gegen illegale Inhalte und Desinformation gehen. (gpi, 18.12.2023)