Etwa 20 Minuten werde er aus seinem Leben erzählen, danach könne er alle Fragen beantworten, sagt Thomas Lachs. Er nimmt seine schwarze Uhr ab, platziert sie auf dem kleinen Tisch vor sich und beginnt: "Ich bin 1938 in Wien geboren – wrong time, wrong place, sage ich immer."

Rund zwei Stunden verbringt Thomas Lachs in einer Schule. Die meiste Zeit beantwortet er Fragen der Schülerinnen und Schüler.
A. Zillbauer/BKA

Seit fast einem Jahr besucht der 85-Jährige Schulen und spricht mit Jugendlichen über das Leben seiner Familie im Wien der NS-Herrschaft, über die Flucht in die USA und die Rückkehr nach Österreich. "Es gibt immer weniger von uns. Die, die noch da sind, müssen ihre Geschichte erzählen", sagt er im Realgymnasium Feldgasse im achten Bezirk. 13 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen machen derzeit über das Programm des OeAD (Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung) zum Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust, Schulbesuche.

Lachs wird im Juli 1938 in eine jüdische Familie geboren, im selben Jahr wird seine Mutter Minna fristlos entlassen. Auch sein Vater Ernst verliert seine Dienststelle als Beamter. Sie fliehen in die Schweiz. Die Großeltern mütterlicherseits schaffen es nach Palästina. "Mein Vater wollte immer seine Eltern, die in Graz gelebt haben, retten. Es ist ihm nicht gelungen", sagt Lachs. "Zwei der ersten Stolpersteine, die später in Graz verlegt wurden, erinnern an die beiden." Lachs’ Großmutter wird im Konzentrationslager Auschwitz, der Großvater in Theresienstadt ermordet.

Viele Jahre später besucht Lachs die Vernichtungslager, in denen die Eltern seines Vaters ihr Leben verloren haben. Er steht am Eingang, geht nicht hinein. "Das habe ich nicht geschafft", sagt er.

Flucht vor den Nazis

Von der Schweiz flieht die Familie weiter. Im August 1941 besteigen sie in Spanien die SS Navemar – das Schiff soll jüdische Flüchtlinge nach New York bringen. Mehr als einen Monat dauert die Reise – auf dem überfüllten Schiff herrschen schreckliche hygienische Bedingungen, viele Passagiere erkranken an Typhus. Eine Schülerin will wissen, wie Lachs sich gefühlt hat, als das Schiff in Kuba zwischenlandete. "Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern", sagt er. Ehrlichkeit gehört dazu bei solchen Gesprächen, wenn Lachs eine Anekdote erzählt, an die er sich nicht erinnern kann, sagt er, das habe ihm etwa die Mutter oder der Vater so erzählt.

1947 kehrt Lachs mit den Eltern nach Wien zurück, geht ins Gymnasium, studiert danach Recht und Volkswirtschaft. Während des Studiums engagiert er sich im Zuge der Ungarnkrise für geflohene Studierende. 2015 steht er am Westbahnhof und will wieder helfen. Er wird für den Frühstücksdienst eingeteilt, macht Essen für die Angekommenen. Nach ein paar Tagen zieht er sich jedoch zurück. "Das habe ich nicht durchgehalten", sagt er. "200 Leute und nicht ein einziges Bett. Es war so fürchterlich."

Minna Lachs wird nach der Rückkehr Direktorin eines Mädchengymnasiums und setzt sich für eine Modernisierung des Bildungssystems ein. Dass in den 1990er-Jahren ein Park im sechsten Bezirk nach seiner Mutter benannt wurde, war "einer der berührendsten Momente" seines Lebens, sagt Lachs. "Eines meiner Hobbys ist: Ich setze mich dafür ein, dass Straßen nach jüdischen Persönlichkeiten benannt werden, die vergessen wurden", sagt er und zählt einige Komponisten und Musiker an seiner Hand ab.

Mit Antisemitismus war die Familie auch nach ihrer Rückkehr konfrontiert. Wie die Atmosphäre nach dem Krieg war und wie man über den Holocaust gesprochen hat, will eine Schülerin wissen. "Es war ein Tabu. Man hat darüber nicht geredet, das hat gedauert, bis Franz Vranitzky Kanzler wurde." Lange habe er darüber nachgedacht, warum das so war, und sei zu dem Schluss gekommen: "Jede Familie hat eine Schuld gehabt. Darüber zu sprechen war erst möglich, als nicht mehr der Vater oder der Onkel betroffen war. Erst als eine Generation gestorben war, haben Kinder ihre Eltern gefragt." Diese Gespräche seien für keine Seite einfach gewesen.

Heute könne man offen über die Vergangenheit sprechen, sagt Lachs. Das wollen die Jugendlichen tun – aber auch darüber, wie sich die Welt am 7. Oktober, als die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel überfiel, geändert hat. "Es gibt nur eine Lösung: Es muss Frieden geben. Das kann nur sein, wenn beide Völker miteinander leben", sagt Lachs.

Aktueller Antisemitismus

Seit dem Krieg in Nahost ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle laut Auswertung der Israelitischen Kultusgemeinde auch in Österreich stark gestiegen. "Wir haben aus den Schulen auch entsprechende Rückmeldungen erhalten", sagt Bildungsminister Martin Polaschek zum STANDARD. Das Ministerium habe daher Unterrichtsmaterialien zusammengestellt, in jeder Bildungsdirektion sei eine Stelle geschaffen worden, die Lehrenden zur Seite steht. "Wir bieten auch vermehrt Workshops zum Thema Deradikalisierung an. Die Nachfrage ist sehr groß." 2024 soll das Angebot ausgeweitet werden. "Wir investieren 700.000 Euro mehr für zusätzliche Workshops", sagt Polaschek, der an diesem Vormittag in der ersten Reihe vor Lachs Platz genommen hat.

Martin Polaschek sieht auch in der Schule Handlungsbedarf.
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Denn auch Zeitzeugengespräche gehören zur Arbeit gegen Radikalisierung. "Erfährt man über diese Zeit nur aus Schulbüchern oder Vorträgen, hört man Tatsachen. Erzählt ein Mensch seine Geschichte, wird es ein persönliches Schicksal", sagt Polaschek. "Wenn man hört, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft eine Synagoge niedergebrannt wurde, Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben und im Konzentrationslager ermordet wurden, dann hat man eine andere Beziehung zu diesen schrecklichen Verbrechen."

Nach rund zwei Stunden läutet die Glocke. Die Zeit hier ist eigentlich um. Einige Schülerinnen bleiben und stellen noch Fragen. Sie haben nicht oft die Möglichkeit, mit einem Zeitzeugen zu sprechen.

Mit Antisemitismus müsse man sich aber auch über Workshops hinaus beschäftigen, sagt Polaschek. "Wir sehen, dass die Herausforderung eine andere ist, als sie es bisher war – es gibt einen offenen Antisemitismus auch an den Schulen", sagt der Minister. Eine Expertengruppe beschäftige sich derzeit mit der Frage, wie man im Unterricht generell auf dieses Thema reagieren könne. (Oona Kroisleitner, 24.12.2023)