Die Reform "führt zu einem schweren und beispiellosen Schaden für den demokratischen Charakter des Staates Israel": Mit dieser Begründung hat Israels Oberster Gerichtshof die umstrittene Justizreform der Regierung unter Benjamin Netanjahu aufgehoben. Die Justizreform hatte im Vorjahr Massenproteste und Streiks in ganz Israel ausgelöst. Trotz dieser Proteste brachte Netanjahus Koalition einen ersten Teil der Reform als Grundgesetzänderung durchs Parlament.

Noch nie zuvor hat in Israel der Oberste Gerichtshof in ein Grundgesetz eingegriffen. Nun war es aber so weit.
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Dieser Teil wurde nun vom Höchstgericht für ungültig erklärt. Von fünfzehn Richtern stimmten acht für die Aufhebung der Grundgesetzänderung. Drei weitere Richter erklärten die Reform zwar für demokratieschädlich, hielten eine Aufhebung aber in diesem Fall für unangemessen.

Noch nie zuvor hat in Israel der Oberste Gerichtshof in ein Grundgesetz eingegriffen. Es ist ein historischer Spruch, der eine klare Linie für spätere Entscheidungen des Höchstgerichts vorgibt: Ab jetzt ist es nicht mehr tabu, die Regierung für demokratieschädliche Politik zu rügen – selbst dann, wenn die Koalition diese Politik in den Stein des Grundgesetzes meißelt.

In Israel können Regierungen Grundgesetze sehr leicht ändern, sie brauchen dafür nur die Stimmen ihrer eigenen Koalitionsabgeordneten im Parlament. Die Opposition hat keine Möglichkeit, es zu verhindern.

Video: Oberstes Gericht kippt Kernstück der Justizreform.
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Freie Bahn für Missbrauch?

Mit dem ersten Teil des Programms zum Justizumbau hatte die ultrarechte Regierung die Macht des Obersten Gerichtshofs beschnitten. Konkret wurde dem Höchstgericht durch die Reform die Möglichkeit genommen, Entscheidungen der Regierung aufzuheben, weil sie "grob unangemessen" sind – etwa im Fall von korrupten Entscheidungen oder Begünstigungen von Freunden bei der Vergabe von Stellen. Kritiker warfen der Regierung vor, sich auf diese Weise freie Bahn für Machtmissbrauch geben zu wollen.

Erwartungsgemäß empört reagierten Netanjahus Koalitionsfreunde auf die Entscheidung, die Montagabend bekanntgegeben wurde. Justizminister Jariv Levin, einer der Architekten der Reform, warf dem Höchstgericht vor, "alle Befugnisse an sich zu reißen, die in einer Demokratie auf die Gewalten aufgeteilt sind".

Parlamentssprecher Amir Ohana, ein treuer Verbündeter Netanjahus, lehnte den Spruch des Gerichtshofs ab und warf den Höchstrichtern vor, ihre Kompetenzen zu überschreiten. "Es ist offensichtlich, dass der Oberste Gerichtshof keinerlei Befugnis hat, Grundgesetze für nichtig zu erklären."

Geteilte Meinungen

Das sehen viele Verfassungsjuristen anders. Selbst jene Mitglieder des Höchstgerichts, die nun gegen die Aufhebung der Reform stimmten, sind mehrheitlich der Ansicht, dass der Oberste Gerichtshof sehr wohl Grundgesetze aufheben darf – und zwar dann, wenn sie dem demokratisch-jüdischen Charakter des Staates Israel schweren Schaden zufügen. Im aktuellen Fall waren dreizehn der fünfzehn Höchstrichter dieser Meinung. Es war das erste Mal in Israels Geschichte, dass der gesamte 15-köpfige Richtersenat über eine Causa zu entscheiden hatte. Das spricht dafür, dass dieses Grundsatzurteil auch in späteren Entscheidungen respektiert und angewendet werden wird.

Im Jänner des Vorjahres hatte Justizminister Levin jenes umfangreiche Paket präsentiert, durch das der Oberste Gerichtshof entmachtet und Richter in allen Gerichten unter politische Kontrolle gebracht werden sollten – er nannte das "Justizreform". Aufgrund der massiven Proteste verzögerte sich die Umsetzung mehrmals. Erst im vergangenen Juli wurde ein erster Teil des Pakets durchs Parlament gebracht. Zivilgesellschaftliche Organisationen beschwerten sich daraufhin beim Höchstgericht, das im September in einer dreizehnstündigen öffentlichen Verhandlung darüber debattierte.

Vor dem Krieg hatten Teile von Netanjahus Regierung angedeutet, sie würden eine Aufhebung der Reform nicht akzeptieren und einfach so tun, als wäre sie noch in Kraft. Angesichts des Kriegs in Gaza ist das nun nicht zu erwarten. Justizminister Levin kündigte an, für die Dauer des Kriegs "mit Zurückhaltung und Verantwortungsbewusstsein" vorzugehen. (Maria Sterkl, 2.1.2024)