Nach einer Woche in der Ukraine bin ich, wieder zurück in Wien, voller Eindrücke und Demut vor den Menschen in diesem vom Krieg gezeichneten Land. Luftalarm in der Silvesternacht in Lwiw. Laut Telegram-Channels sind Drohnen unterwegs. Wir suchen Schutz im Stiegenhaus. Zwei Wände Abstand zur Außenwelt, so die Regel. Wir lauschen angespannt den Maschinengewehren der Luftabwehr. Wir warten, bis die letzte Drohne mir einem dumpfen Knall in der Nachbarschaft einschlägt. Ja, da fühlt sich der Krieg gleich viel echter an als von daheim. Soldaten erzählen mir ausführlich, was im Osten passiert. Ich fahre nach Kyiv, zwei Tage zuvor der Großangriff. Aber die Grausamkeit des russischen Überfalls auf die Ukraine, ist auch dort, 20 Kilometer entfernt von Butscha, nur zu erahnen.

Viele riskieren täglich ihr Leben im Krieg. Allein auf der ukrainischen Seite sterben im Schnitt 100 Soldaten pro Tag – ein Soldat alle 15 Minuten! Viele in der Armee sind junge Männer unter 30, kaum älter als ich, oft Freiwillige. Würde ich mitkämpfen? Oder mich so wie viele ukrainische Wehrpflichtige aus Angst vor der Einberufung verstecken?

Zerstörte Panzer stehen auf einem Hauptplatz
Der Krieg ist in der Ukraine allgegenwärtig. Hier zu sehen: Zerstörtes Kriegsmaterial mit Parolen gegen Putin, ausgestellt auf dem Mykhailivs'ka-Platz in Kyiv.
Michael Spiekermann

Jeder Mensch in diesem Land hat seine persönliche Kriegsgeschichte. Viele haben Freunde verloren. Ich traf ein junges Paar, das aus Sorge über die Zukunft keine Kinder bekommen will. Dann war da ein Jugendlicher, der Dates absagt, weil er aus Respekt vor den Soldaten an der Front schöne, romantische Gefühle vermeidet. Und eine Frau, die sich komplett überarbeitet, weil sie tagsüber Geld verdient und nachts Spendenkampagnen für die Armee organisiert. Selbst so banale Aussagen wie "wir trennen seit 24. Februar unseren Müll nicht mehr – es fühlt sich nicht mehr wichtig an" verdeutlichen: Der Krieg ist immer und überall. Bei jeder alltäglichen Entscheidung hat er das letzte Wort.

Zerstörtes Haus, Ruine
Zerstörtes Gebäude nach einem Luftangriff auf Kyiv.
Michael Spiekermann

Zivilgesellschaft bleibt aktiv

Trotzdem geht das Leben in der Ukraine weiter. Die Zivilgesellschaft ist aktiv, mobilisiert Geld, kocht Essen fürs Militär, hilft Nachbarn und Nachbarinnen und engagiert sich politisch-aktivistisch für Reformen. Während sich Ukrainerinnen und Ukrainer fragen "Was kann ich für mein Land tun?", geht es mir in Österreich viel zu oft nur um "Was kann mein Land für mich tun?".

Das stimmt mich traurig und wirft große Fragen auf: Sind wir erst bereit, uns im notwendigen Ausmaß für Gerechtigkeit, Friede und Demokratie einzusetzen, wenn die Raketen über unseren Köpfen fliegen? Können wir politisches Chaos und menschlichen Leid von neuem Ausmaß verhindern, während wir globale Krisen wie die Klimakrise erst eskalieren lassen, ehe wir aktiv werden?

Zug am Bahnhof
Trotz des Krieges mit seinen allumfassenden Auswirkungen geht das Leben in der Ukraine weiter. Die Nachtzüge sind pünktlich und oft ausgebucht. Menschen reisen quer durchs Land, besuchen Verwandte und nehmen Geschäftstermine wahr.
Michael Spiekermann

Ich habe in der Ukraine viele Personen gefragt, was ich selbst tun kann. Spenden, posten, reden, sagen viele. Im Land selbst spenden Menschen teils mehr als die Hälfte ihres Einkommens an die Armee oder an NGOs, die dann beispielsweise ausgebombten Familien mit Wärmedämmung für ihre kalten Wohnung helfen.

Aber auch das russische Erdgas nannten mir Ukrainer als Problem. Fossiles Gas, das nicht nur CO2 in die Atmosphäre bringt, sondern auch Geld in Putins Kriegskassen spült. Das ist gerade mit Blick auf Österreich ein drängendes Thema. Ein rascher Ausstieg aus Gas braucht einerseits genug Menschen, die ihre Gasheizungen durch aktuell stark geförderte Wärmepumpen oder Fernwärme ersetzen. Andererseits braucht es weitere Schritte von der Politik, um speziell in Miethäusern und der Industrie den Umstieg zu erleichtern.

Besinnen wir uns zurück: Es geht hier um die Ukraine, es geht um Sicherheit und Demokratie. Es geht um Menschen – jene Menschen, die ich kennenlernen durfte, und jene Männer, die Angst haben, bald an die Front zu müssen. Wir können es ändern – ja, wir in Westeuropa. Zu folgender Frage sollte jede und jeder von uns eine Antwort finden: Was ist mein Weg, beizutragen? (Michael Spiekermann, 18.1.2024)