Filmstill aus
Die liebe Familie hat, jedenfalls gesellschaftlich gesehen, eine Menge Vorteile, auch die "Addams Family", hier auf einem Familienfoto aus der Sitcom aus den 1960er-Jahren.
MGM

Ja, die Familie ist ein Quell der Freude. Bekanntermaßen aber auch ein Garant für Abgründe und Konflikte jeder Art, das fängt bei Rangeleien im Kleinkindalter an und hört beim Erbstreit auf. Je weiter verzweigt eine Familie, desto komplexer sind oft die Verhältnisse. Doch wer heute eine große Verwandtschaft hat, sollte die Beziehungen zu ihr hegen und pflegen. Denn in absehbarer Zeit werden Familiennetzwerke immer weiter schrumpfen. Und zwar um mehr als 35 Prozent weltweit, wie eine aktuelle Studie vorrechnet.

Eine 65-jährige Frau hat demnach global betrachtet heute im Durchschnitt 45 lebende Verwandte. "Im Jahr 2095 wird eine gleichaltrige Frau im Durchschnitt nur noch 25 lebende Verwandte haben", berichten Forscher vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock. In Österreich fällt der Effekt geringer, aber doch deutlich merkbar aus.

Südamerika am stärksten betroffen

In Nordamerika und Europa, wo die Familien schon heute vergleichsweise klein seien, würden die Veränderungen weniger ausgeprägt sein, sagt der Leiter der Forschungsgruppe "Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen" am MPIDR, Diego Alburez-Gutierrez. Er veröffentlichte die Studie kürzlich im Fachmagazin "PNAS" zusammen mit Ivan Williams von der Universität Buenos Aires und Hal Caswell von der Universität Amsterdam. Stark betroffen sind Regionen, wo es heute noch große Familienstrukturen gibt. Der größte Rückgang der Verwandtschaftsnetzwerke ist demnach in Südamerika und der Karibik zu erwarten.

"In Österreich konnte eine 65-Jährige im Jahr 2023 erwarten, durchschnittlich 16,5 lebende Verwandte zu haben", schildert Alburez-Gutierrez. Nach den neuen Berechnungen wird eine ebenso alte Österreicherin im Jahr 2050 "nur noch 15,8 und 2095 – statistisch gesehen – nur noch 14,2 Verwandte haben". Während eine gleichaltrige Deutsche im vergangenen Jahr im Schnitt 15,8 lebende Verwandte hatte, werden es nach der Projektion der Demografen 2050 nur noch 15 sowie 2095 nur noch 14,1 Verwandte sein. In der Schweiz sinken die Zahlen von 18,7 (2023) auf 16,7 (2050) und 14,6 (2095).

Grafik
Die Zahl der Familienmitglieder wird weltweit abnehmen.
MPIDR

Die Forscher werteten historische und prognostizierte Daten der Ausgabe 2022 der "World Population Prospects" der Vereinten Nationen für ihre Studie aus. Betrachtet wurde ein Zeitraum vom Jahr 1950 bis 2100 in Fünf-Jahres-Intervallen. Sie dokumentierten weltweit Unterschiede in der Familiengröße, die sie als Anzahl der lebenden Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel und Urenkel, Tanten und Onkel, Nichten und Neffen, Geschwister und Cousins definierten. Für jedes Land wurden mithilfe mathematischer Modelle 1.000 Verwandtschaftsverläufe analysiert.

Mehr (Ur-)Großeltern

Die Berechnungen ergaben, dass die Gesamtzahl der Familien in allen Regionen der Welt dauerhaft abnehmen wird. Am heftigsten wird die Region Südamerika und Karibik betroffen sein. Dort hatte 1950 eine 65-jährige Frau im Durchschnitt 56 lebende Verwandte. Im Jahr 2095 werden es voraussichtlich nur noch 18,3 Verwandte sein – ein Rückgang um 67 Prozent. Insgesamt werden sich die weltweiten Familiengrößen bis 2095 angleichen. Während 1950 der Unterschied zwischen dem Land mit der höchsten Familiengröße (Simbabwe) und dem Land mit der niedrigsten Familiengröße (Italien) 63 betrug, wird dieser Unterschied 2095 nur noch elf betragen.

Gleichzeitig mit der Verkleinerung der Familien verändern sich auch ihre Strukturen. Die Zahl der Cousins und Cousinen, Nichten, Neffen und Enkelkinder wird stark abnehmen, während die Zahl der Urgroßeltern und Großeltern deutlich zunehmen wird, betonen die Forscher. Das bedeute, dass im Zuge der raschen Alterung der Bevölkerung kleinere Geburtskohorten zunehmend für ältere Erwachsene aufkommen müssen, die weniger oder keine Verwandten haben.

Familiennetzwerke überaltern

Zudem ergebe sich dadurch eine Abnahme der verwandtschaftlichen Ressourcen. "Da der Altersunterschied zwischen den Menschen und ihren Verwandten zunimmt, werden die Familiennetzwerke der Menschen nicht nur kleiner, sondern auch älter", sagt Alburez-Gutierrez. "Nehmen wir den Fall der Großeltern und Urgroßeltern, die in Zukunft durch die strukturellen Veränderungen in Familien wahrscheinlich in größerer Zahl zur Verfügung stehen werden. Während dies theoretisch dazu beitragen könnte, die Eltern bei der Kinderbetreuung zu entlasten, könnten diese (Ur-)Großeltern in der Realität selbst pflegebedürftig werden."

Die Studie unterstreicht aus Sicht der Forscher die Notwendigkeit, in soziale Unterstützungssysteme zu investieren, die das Wohlergehen der Menschen in allen Lebensphasen gewährleisten. Schließlich seien für einen großen Teil der Weltbevölkerung familiäre Bindungen nach wie vor eine wichtige Quelle der Unterstützung und informellen Pflege, und dies werde sich auch in Zukunft nicht so schnell ändern. Alburez-Gutierrez: "Diese seismischen Verschiebungen in der Familienstruktur werden wichtige gesellschaftliche Herausforderungen mit sich bringen, die von politischen Entscheidungsträgern im globalen Norden und Süden berücksichtigt werden sollten." (kri, APA, 16.1.2024)