Yosi Shnaider, Cousin der Hamas-Geisel Shiri Bibas, besucht ihr Haus im israelischen Kibbuz Nir Oz.
REUTERS/AMIR COHEN

Jeder Krieg wirkt sich auch auf die psychische Gesundheit der Betroffenen massiv aus. In Israel trifft Gewalterleben auch immer auf uralte Traumata. Der Psychiater Martin Auerbach erzählt aus seiner Praxis.

STANDARD: Am 7. Oktober 2023 wurde Israel durch den Hamas-Überfall in eine Schockstarre gestürzt. Ein nationales Trauma?

Auerbach: Ja und nein, es gibt konzentrische Kreise. Es ist ganz unterschiedlich, ob man in einem Haus in einem der Kibbuzim im Süden war und sich zwölf Stunden lang verstecken musste, während man hörte, dass draußen Leute herumgehen und Wohnungen in Brand stecken – oder aber man war in Netanya (nahe Tel Aviv, Anm.) und sah es in den Medien. Wenn man die Kreise größer zieht, gibt es aber niemanden in Israel, den es nicht betrifft. Es ist ja nicht wie 9/11, das nur einen kleinen Teil der US-Bevölkerung betroffen hat und das danach vorbei war. Hier kennt jeder irgendwen, der betroffen war. Und der Krieg ist noch im Gange, Geiseln sind noch in Gaza, und wir haben mehr als 120.000 Menschen, die an ihren Wohnort nicht zurückkönnen.

STANDARD: Welche Gefühle löst das aus?

Auerbach: Es gab hier immer Kriege und Bombenanschläge; aber viele Israelis dachten, damit kann man leben. Heute haben viele das Gefühl, dass die Existenzbedrohung realer ist als früher. Regierung und Armee hätten uns beschützen sollen, aber das ist nicht passiert. Speziell für die, die nahe Gaza wohnen, ist das schwierig. Wir wissen, dass es grobe Fehler gegeben hat in der Prävention, Warnrufe ignoriert wurden. Das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, ist eine enorme Belastung.

STANDARD: Wie überwindet man ein Trauma?

Auerbach: Am Anfang ist man sehr stark mitgenommen – wir nennen das posttraumatische Symptome. Vier von fünf Betroffenen haben sich nach mehreren Wochen von einem Trauma erholt. Für rund zwanzig Prozent der Traumatisierten ist das etwas, was sie nicht überwinden können – das nennen wir posttraumatische Belastungsstörung. Oft ist entscheidend, wie hilflos man sich gefühlt hat, ob man vielleicht selbst etwas tun konnte, um sich zu befreien oder anderen zu helfen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, ob es ein Naturereignis war oder etwas, das von Menschen zugefügt wurde. Wenn das Böse des Menschen hineinspielt und unsere Grundannahmen des Vertrauens in den Menschen infrage stellt, kann man das schwerer verarbeiten.

STANDARD: Inwiefern weckt der 7.Oktober alte kollektive Erinnerungen?

Auerbach: Viele sagen, das Massaker ähnelte einem Pogrom. Und Pogrome gab es über Jahrhunderte, auch Ende des 19. Jahrhunderts noch, in Russland und der Ukraine, und sogar nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen. Diese Erinnerung ist im kollektiven Bewusstsein.

STANDARD: Wie kann man ein Trauma bearbeiten, wenn die Gefahr immer noch akut ist?

Auerbach: Das macht es sehr schwierig. Das Erste, was man in der Therapie macht, ist zu prüfen: Ist die Gefahr immer noch real? Ein Beispiel: Wird eine Frau immer noch von ihrem gewalttätigen Mann bedroht, dann ist die Therapie nicht, mit ihr an ihren Albträumen zu arbeiten – denn die sind ja eine ganz normale Reaktion auf konkrete Gefahr. Sie muss erst aus der Gefahrenzone raus, sonst kann man das nicht therapieren. Und das ist im Moment in Israel noch nicht der Fall: Es gibt Krieg, es gibt Bombenalarm, niemand weiß, wie es ausgeht.

STANDARD: Wie können Therapeuten Sicherheit vermitteln, wenn die äußeren Umstände so unsicher sind?

Auerbach: Man versucht, wenigstens eine relative Stabilität zu bieten. Zum Beispiel, indem man den Menschen einen Tagesablauf gibt. Viele Freiwillige haben das gemacht: Sie sind zu den evakuierten Kindern gegangen und haben mit ihnen gemalt, mit ihnen "Schule" gemacht. Natürlich ist das nicht dieselbe Schule, und viele Klassenkollegen sind nicht mehr am Leben – aber es ist Schule.

Sehr oft besteht Normalität einfach darin, dass man sich aktiv mit etwas beschäftigt. Ein Beispiel: Die Angehörigen der Geiseln sind ja sehr aktiv, um die Geiseln zurückzubringen. Sie fahren ins Ausland, klopfen an alle Türen, sprechen mit Medien und sagen: So schlecht es uns geht, wir müssen etwas tun – und das ist etwas, was ihnen extrem hilft.

STANDARD: Zu Ihnen kommen Holocaust-Überlebende. Wie verarbeiten sie den 7. Oktober?

Auerbach: Die Holocaust-Überlebenden sind nicht eine homogene Gruppe, sie sind sehr divers. Aber für alle war der 7. Oktober ein erneutes Erdbeben, das die Erinnerungen an die Vergangenheit wieder aufleben lässt. Bei vielen verstärkt es die Existenzängste. Sie haben jetzt mehr Albträume – vor allem von Dingen, die vor 80 Jahren passiert sind. Einige trauen sich nicht mehr aus dem Haus, sie horten Lebensmittel und sagen ihren Kindern und Enkelkindern: Bleibt nicht hier, sucht euch ein anderes Land, hier haben wir keine sichere Zukunft. Es gibt aber auch die, die sagen: Weil wir selbst gelitten haben, können wir empathisch sein für die heutigen Opfer, zum Teil auch für die zivilen Opfer in Gaza.

STANDARD: Verstörende Bilder sind heute allgegenwärtig. Was bedeutet das für Überlebende?

Auerbach: Das hat gute und schlechte Seiten. Viele Shoah-Überlebende sagen: Heute wird das berichtet, das Leid wird öffentlich anerkannt, um uns hat sich damals niemand gekümmert. Das ist positiv, weil die Opfer sich nicht vergessen fühlen oder sogar den Eindruck haben, dass ihnen nicht geglaubt wird – das war während und nach der Shoah nämlich oft der Fall. Die negative Seite ist: Die Bilder können enorm traumatisierend sein. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 18.1.2024)

Martin Auerbach (Jg. 1958) ist auf Traumata spezialisierter Psychiater und Psychotherapeut in Jerusalem. Er ist Klinischer Leiter von Amcha, dem israelischen Zentrum für psychosoziale Unterstützung von Holocaust-Überlebenden und ihren Familien.
Maria Sterkl