Fliege im Darm
Orte, an denen Entomophobiker offenbar nicht vor Insekten sicher sind: ihr eigener Darm.
Sherma N. & Bechtold M, The American Journal of Gastroenterology 2023

Die wenigsten Menschen dürften Darmspiegelungen gelassen entgegenblicken. So wichtig sie zur Krebsvorsorge sind, so unangenehm ist für viele bereits die Vorstellung, eine Sonde in die Eingeweide eingeführt zu bekommen und vorab den Speiseplan anzupassen, abführende Tinkturen inklusive. Zugegeben, Fachleute arbeiten erfolgreich daran, das Ganze so unauffällig wie möglich zu gestalten. Am anderen Ende der Sonde absolvieren routinierte Ärztinnen und Ärzte die Prozedur freilich viel entspannter. In Ausnahmefällen werden aber auch sie überrascht – und blicken vereinzelt sogar am Koloskopie-Bildschirm in die Facettenaugen eines Insekts.

Davon zeugen jedenfalls medizinische Berichte, die in den vergangenen Jahren immer wieder veröffentlicht wurden. Das ist erstaunlich, weil man davon ausgeht, dass lebende oder tote Insekten (oder deren Eier), die es über den Mund in den Verdauungstrakt schaffen, spätestens durch die Magensäure in ihre Einzelteile zerlegt werden.

Im Fall eines 63-jährigen Patienten in den USA war es eine vollständige Fliege, die regungslos in seinem Dickdarm gefunden wurde. Wie die meisten Betroffenen konnte er sich bei anschließender Befragung nicht erklären, wie das Insekt in seinen Körper kam. Über den Anus ist dies sehr unwahrscheinlich, das Ärzteteam spricht im Fachblatt "American Journal of Gastroenterology" von einem rätselhaften (und sehr seltenen) Befund. Möglich ist, dass er die Fliege im Schlaf versehentlich verschluckte.

Überleben ohne Nahrung

Vermutlich hat auch eine 52-jährige Frau ein Insekt verschluckt, das während ihrer Koloskopie entdeckt wurde. Sie erwähnte einen Kakerlakenbefall in ihrer Wohnung, mutmaßlich über das Essen gelangte eines der Tiere in ihren Körper. Es handelte sich um die Spezies der Deutschen Schabe, und zwar um eine Nymphe, also ein älteres Jungtier. Sofern sie sich in feuchter Umgebung befinden, können die Tiere in diesem Stadium mehr als einen Monat lang ohne Essen auskommen. Auch tote Motten und Ameisen wurden bereits im Darmtrakt von anderen Patientinnen und Patienten gefunden, die womöglich über verunreinigte Speisen eingenommen wurden oder bei einem Picknick ins Essen gelangten.

Motte im Darm
Geflügelte Insekten wurden ebenfalls schon im Darm gesichtet.
Patel et al., ACG Case Reports Journal 2014

Ein anderes Mal wurden die Insekten offenbar absichtlich zugeführt, und zwar zu medizinischen Zwecken. Eine Patientin im US-Bundesstaat Arizona setzte auf traditionelle Naturheilkunde in Form von Käfern: Erzählungen nach sollen sie beim Sterben im Magen ein Enzym freisetzen, das das Immunsystem stärkt und so allerlei Erkrankungen von Asthma über Depressionen bis hin zu Aids und Krebs bekämpft. Man kann erahnen, dass es dafür keinen wissenschaftlichen Beweis gibt. Wissenschaftsjournalist Marc Gozlan schreibt auf seinem Blog in "Le Monde", dass ein Extrakt aus den Insekten sogar zell- und DNA-schädigende Wirkung hat (unabhängig davon, ob es sich um gesunde oder kranke Zellen handelt).

Mexikanische Ärztinnen und Ärzte stießen ebenfalls bei einem 70-jährigen Mann auf zahlreiche Schwarzkäfer, die er willentlich gegessen hatte – über mehr als vier Monate hinweg. Von den erwachsenen Exemplaren waren einige unverdaut und schienen teilweise noch lebendig zu sein, wie die Fachleute im Journal "Endoscopy" festhielten.

Häufiger als gedacht

Abgesehen von diesen speziellen Fällen vermutet ein italienisches Ärzteteam angesichts eines weiteren Falles, dass unabsichtlich gegessene Insekten viel häufiger vorkommen als bisher gedacht. Ihnen zufolge "passiert die große Mehrheit der versehentlich verschluckten Insekten den Magen-Darm-Trakt ohne Zwischenfälle".

Ameise im Darm
Bei einem Picknick sollte man darauf achten, nicht versehentlich Ameisen zu verzehren.
Boardman & Sonnenberg, Gastrointestinal Endoscopy 2009

Die seltenen Sichtungen – oder zumindest deren seltene Dokumentation – dürften es jedoch schwierig machen, systematisch zu erforschen, ob es einer bestimmten Prädisposition oder Krankheiten bedarf, dass die kleinen Tiere so oft unzersetzt durch den Verdauungstrakt wandern. Womöglich schützt sie ihr Chitinpanzer in einigen Fällen besser vor Verdauungsenzymen, als man das annehmen würde, wie die skurrilen Beobachtungen zeigen.

Aus dem Tierreich ist zumindest von einzelnen Spezies bekannt, dass sie sich auf derartige Fähigkeiten spezialisiert haben. Der japanische Wasserkäfer ist etwa in der Lage, seinem Fressfeind, dem Wasserfrosch, zu entkommen, nachdem dieser ihn geschluckt hat. Er flüchtet mehr oder minder unbeschadet aus dem Darm. Einem Exemplar gelang das unter Laborbeobachtung in nur sieben Minuten. Das gibt es sogar als Video:

A beetle species can escape from the vent of a frog / マメガムシはカエルに食べられてもお尻の穴から生きて脱出できる
naturalist2008

Wieder andere Spezies, die zu den Parasiten gezählt werden, legen es sogar darauf an, von ihren Wirten gefressen zu werden und sich dann fortzupflanzen. Nicht immer landen sie im Körper von Vertretern der angepeilten Art, im Vorjahr sorgte ein Schlangenparasit im Gehirn einer Australierin für Aufsehen. Im Allgemeinen werden Expertinnen und Experten aber dazu raten, sich über solche unwahrscheinlichen Begebenheiten nicht den Kopf zu zerbrechen – und empfehlen, zumindest nicht absichtlich Insekten zu schlucken, um sich davon heilende Wirkung zu erwarten. (Julia Sica, 2.2.2024)