Michelle O’Neill, nun Erste Ministerin Nordirlands.
Michelle O’Neill, nun Erste Ministerin Nordirlands.
REUTERS/SUZANNE PLUNKETT

Michelle O’Neill genoss ihren Auftritt sichtlich. Auf dem Weg in den Plenarsaal des Belfaster Regionalparlaments schritt die 47-Jährige würdig die Stufen hinab. Die Bestätigung der Regionalchefin von Sinn Féin (SF), der irisch-republikanischen Partei, als Erste Ministerin Nordirlands war zu diesem Zeitpunkt nur noch Formsache.

Nach der Ernennung sprach die katholische Nationalistin von einem "historischen Tag": Erstmals ist jemand für die Geschicke der britischen Provinz verantwortlich, der lieber heute als morgen mit der Republik im Süden der Grünen Insel vereinigt sein und damit sein Amt überflüssig machen möchte. O’Neill fand aber auch warme Worte für die nach London orientierten Protestanten. Deren nationale Identität und Traditionen seien ihr wichtig: "Ich werde Ihnen Respekt entgegenbringen." Sie wolle "Ministerpräsidentin für alle" sein.

Das geht schon deshalb nicht, weil juristisch gesehen ihr Amt und das ihrer Vize Emma Little-Pengelly von der protestantisch-unionistischen DUP gleichberechtigt sind. Die Gegensätze zwischen den ethnisch-religiösen Gruppen bleiben groß, das weiß O’Neill. Ihr Vater saß als Mitglied der Terrortruppe IRA in Haft, einer ihrer Cousins wurde erschossen. Zu ihren Kindheitserinnerungen zählen durch die verhasste britische Armee durchgeführte Hausdurchsuchungen.

Kehrtwende der DUP

Das Politikgeschäft hat sie von klein auf gelernt, zunächst als Helferin ihres Vaters, der für Sinn Féin (SF) in den örtlichen Stadtrat gewählt wurde, später im Belfaster Regionalparlament. 2007 erstmals gewählt, diente sie in der Allparteienregierung als Ministerin für Landwirtschaft und Gesundheit, seit 2017 war sie regionale SF-Leiterin sowie Vize-Regierungschefin. Bei der Wahl 2022 lag SF erstmals vor der DUP, was den Anspruch auf das Amt der Ersten Ministerin begründete. Allerdings verweigerte die DUP wegen Brexit-Nachwehen die Regierungsbeteiligung. Nun hat die Londoner Regierung ihr mit neuen Gesetzen und einem üppigen Finanzpaket die Kehrtwende ermöglicht.

Auf das Spitzenduo wartet viel Arbeit: marode Spitäler, schlecht bezahlte Lehrer, ein aufgeblähter öffentlicher Sektor. Gleichzeitig will O’Neill "in diesem Jahrzehnt" das Traumziel der Wiedervereinigung erreichen. Viel Zeit für die Familie – die geschiedene O’Neill brachte ihr erstes von zwei Kindern mit 16 zur Welt und ist bereits Großmutter – wird da nicht bleiben. (Sebastian Borger, 4.2.2024)